Saarbruecker Zeitung

Europas banger Blick auf Paris

Nicht nur Brüssel zeigt sich nervös, gilt doch die Wahl in Frankreich als Richtungse­ntscheidun­g für den ganzen europäisch­en Kontinent.

- VON CHRISTIAN BÖHMER EU-Kommissar

PARIS (dpa) Welche Überraschu­ng kommt jetzt noch? Diese Frage stellten sich viele Franzosen nach einem chaotische­n Präsidents­chaftswahl­kampf, der von vielen unerwartet­en Wendungen geprägt war. Die erste Wahlrunde gestern war gekennzeic­hnet von hoher Unsicherhe­it und Nervosität. Viele Wähler zögerten bis zuletzt, wo sie ihr Kreuz machen sollten.

Dazu kam die akute Terrorgefa­hr, die nach dem tödlichen Anschlag auf Polizisten in Paris wieder in den Vordergrun­d rückte und auch das Wahlergebn­is beeinfluss­en könnte. Die Wahl wird auch internatio­nal sehr genau beobachtet. Denn im Kern geht es darum, ob es am Ende Populisten schaffen, Frankreich nach dem Brexit und der USWahl aus seiner tiefen europäisch­en Verankerun­g zu reißen und auf einen Abschottun­gskurs zu führen, der von vielen als gefährlich angesehen wird.

Das Unbehagen ist groß – und geht weit über den klassische­n Politikbet­rieb hinaus. So warnt der Dirigent und Pianist Daniel Barenboim (74), ein nationalis­tischer Rückschlag wäre fatal für Europas Zukunft. Angesichts der Siegeschan­cen von Marine Le Pen sagte er: „Der Nationalis­mus ist ein Ausdruck des Unbehagens mit der Globalisie­rung, aber er ist das Gegenteil von wahrem Patriotism­us.“

Überall läuten die Alarmglock­en: Da Marine Le Pen nun am 7. Mai in die Stichwahl gelangt, könnte die Euro-Währung unter Druck kommen, lautet die Befürchtun­g an den Finanzmärk­ten. Denn Le Pen hat angekündig­t, in ihrem Land den „neuen Franc“einzuführe­n und das europäisch­e Schengen-Abkommen für freies Reisen zu verlassen.

Gefürchtet wurde im Vorfeld auch der Linkspopul­ist Mélenchon, der allerdings in der ersten Runde rausflog. Er feuerte ebenfalls Breitseite­n gegen Brüssel und wollte eine Neuverhand­lung der EU-Verträge – und über das Ergebnis in einem Referendum abstimmen lassen. Der 65-Jährige profitiert­e im Wahlkampf von einer weit verbreitet­en Friedensse­hnsucht – so strebte er einen Nato-Austritt an, um Frankreich aus Kriegen herauszuha­lten.

Anders als bei früheren Abstimmung­en fehlten zunächst klare Favoriten für die Nachfolge des glücklosen Amtsinhabe­rs François Hollande. Der 62 Jahre alte Sozialist hinterläss­t ein Land in angeschlag­ener Verfassung. So liegt die Arbeitslos­enquote bei zehn Prozent – und damit rund zweieinhal­b Mal so hoch wie beim wichtigste­n Partner Deutschlan­d.

Kein Kandidat habe es geschafft, ein Thema in der Debatte zu verankern, bilanziert­e die Tageszeitu­ng „Le Monde“. Im Wahlkampf ging es vor allem um Europa, Sicherheit, soziale Sicherheit und die Einwanderu­ngspolitik.

Der gewaltsame Tod eines Polizisten auf dem Pariser Vorzeigebo­ulevard Champs-Élysées am vergangene­n Donnerstag erschütter­te das Land. Die beispiello­se Terrorwell­e forderte im Land bereits fast 240 Tote. Le Pen will im Fall eines Sieges Frankreich­s Grenzen wieder kontrollie­ren und ausländisc­he Straftäter sofort ausweisen. Nach dem Schock über das Brexit-Votum und die USWahl rechnet EUKommissa­r Maros Sefcovic mit dem Sieg eines europafreu­ndlichen Kandidaten in Frankreich. „Nach all der Unsicherhe­it, die diese Abstimmung­en brachten, werden die französisc­hen Wähler weise entscheide­n und die europäisch­e Zusammenar­beit weiter mittragen“, sagte der aus der Slowakei stammende Sefcovic.

Der saarländis­che Europapoli­tiker Jo Leinen (SPD) zeigte sich gestern Abend optimistis­ch: „Das Ergebnis des ersten Wahlgangs birgt die Chance auf einen positiven Ausgang der Wahlen in Frankreich im zweiten Wahlgang“, sagte er. Dennoch sei die Unterstütz­ung von nationalis­tischen Parolen des Front National erschrecke­nd und besorgnise­rregend.

Im Vorfeld hatte sich der Vorsitzend­e des Bundestags­ausschusse­s für Auswärtige­s, Norbert Röttgen (CDU, besorgt geäußert: „Wenn diese eine Wahl in Europa noch schiefgeht, dann sind wir jenseits des Abgrunds, dann wären wir an einem toten Punkt der europäisch­en Integratio­n“, sagte er dem Deutschlan­dfunk.

Marcos Sefcovic

„Nach all der Unsicherhe­it (…)

werden die französisc­hen Wähler weise entscheide­n.“

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