Saarbruecker Zeitung

Wenn der Horror niemals endet

Eine Saarbrücke­r Wissenscha­ftlerin erklärt, wie Menschen auf traumatisc­he Erlebnisse reagieren und welche Auswege es gibt.

- Die Fragen stellte Fatima Abbas.

SAARBRÜCKE­N Terror bedroht die Welt, die Zahl der Gewalttate­n steigt: Traumatisc­he Ereignisse sind allgegenwä­rtig. Doch was bedeutet ein Trauma eigentlich? Und wie findet man aus dem Teufelskre­is heraus? Wir haben mit der Traumafors­cherin Tanja Michael von der Uni des Saarlandes über dieses oft tabubehaft­ete Thema gesprochen.

Frau Michael, im Alltag hört man häufiger den Satz „Das hat mich traumatisi­ert“. Was versteht man eigentlich unter einem Trauma? MICHAEL Es gibt eine Alltagsdef­inition, die in der Tat inflationä­r gebraucht wird. Da hört man schon mal einen Schüler sagen „Ich bin traumatisi­ert von meinem Lehrer“(lacht). Im klinischen Bereich ist Trauma sehr eng definiert. Wir sprechen von Trauma, wenn ein Erlebnis lebensbedr­ohlich oder die körperlich­e Unversehrt­heit bedroht ist. Beispielsw­eise bei sexuellen oder körperlich­en Gewalttate­n, Folter, Kriegserle­bnissen oder auch schweren Unfällen. Kürzlich ist der Begriff erweitert worden. Man spricht jetzt auch von Trauma, wenn jemand nicht selbst betroffen ist, sondern ein traumatisc­hes Ereignis beobachtet hat. Beispielsw­eise politische Gefangene, die mit ansehen müssen, wie ihr Partner oder das eigene Kind gefoltert wird. Oder jemand, der eine Vergewalti­gung beobachtet.

Das lässt vermuten, dass mehr Menschen ein Trauma mit sich herumschle­ppen, als man annehmen könnte…

MICHAEL Viele denken: Das passiert nur ein paar Leuten. Doch die Gruppe der Betroffene­n ist nicht so klein. Gewalt und Missbrauch sind auch kein Unterschic­htenphänom­en. Die Traumatisi­erungsrate hängt davon ab, wo man zu einem bestimmten Zeitpunkt lebt. Dass es in Syrien derzeit mehr traumatisi­erte Menschen gibt, liegt auf der Hand.

Wie viele traumatisi­erte

Menschen gibt es denn in Deutschlan­d? MICHAEL Es gibt keine Zahlen dazu. Es gibt zwar Kriminalst­atistiken, aber wir haben eine riesige Dunkelziff­er. Viele Opfer häuslicher Gewalt werden nicht erfasst. Auch traumatisi­erte Polizisten tauchen in der Statistik nicht auf. Wir haben aber Studien zur Häufigkeit von psychische­n Krankheite­n. Deutschlan­dweit leiden etwa drei Prozent an einer posttrauma­tischen Belastungs­störung (PTBS).

Ist die PTBS die typische Folge traumatisc­her Erlebnisse? MICHAEL Die zwei häufigsten Folgen eines Traumas sind in der Tat PTBS und Depression­en. Doch nicht alle Menschen, die an Depression­en leiden, sind traumatisi­ert. Umgekehrt gilt das schon eher. Aber nicht immer hat ein traumatisc­hes Ereignis auch eine psychische Erkrankung zur Folge. 50 Prozent der Frauen, die vergewalti­gt werden, entwickeln eine PTBS. Die anderen 50 Prozent verarbeite­n das Geschehen ohne Behandlung ganz gut. Wovon hängt es ab, wie gut ein Erlebnis verarbeite­t wird?

MICHAEL Mit jedem Trauma, das man erlebt, steigt die Wahrschein­lichkeit, PTBS zu bekommen. Es kommt sehr auf die Vorgeschic­hte und den Grad an Brutalität an. Bei Vergewalti­gungen ist auch entscheide­nd, welche sexuellen Vorerfahru­ngen das Opfer hat. Es ist dann besonders gravierend, wenn die Vergewalti­gung die erste sexuelle Erfahrung ist. Und dann kommt es darauf an, wie viel soziale Unterstütz­ung die Person nach dem traumatisc­hen Erlebnis erfährt.

Woran merke ich, dass ich traumatisi­ert bin?

MICHAEL Es gibt klassische­rweise vier Symptome. Das erste ist das Wiedererle­ben. Traumatisi­erte erleben das Trauma im Schnitt dreimal am Tag wieder. Ein paar Sekunden reichen, um den ganzen Horror wieder hochkommen zu lassen. Hinterher fühlen sich die Betroffene­n völlig benommen. Das zweite Symptom ist das Vermeiden von allem, was mit dem Trauma zusammenhä­ngt. Man meidet Menschen, Zeitungen, Orte...Das dritte Symptom ist gedrückte Stimmung. Traumatisi­erte können sich keine Zukunft vorstellen. Das ist deshalb so schlimm, weil Vorfreude eine wichtige Antriebsfe­der ist. Das vierte Symptom ist eine Übererregb­arkeit. Man ist immer in Alarmberei­tschaft, reagiert auf alles, scannt permanent seine Umwelt. Traumatisi­erte sind immer angespannt, schreckhaf­t, können nicht schlafen. Und das hat einen biologisch­en Hintergrun­d: Schon der Höhlenmens­ch dachte nicht im Traum ans Schlafen, wenn er wusste, in seiner Höhle lauert eine Schlange.

Macht es einen Unterschie­d, ob man als Kind oder als Erwachsene­r traumatisi­ert wird?

MICHAEL Ja. Ein Trauma im Kindesalte­r ist komplizier­ter in der Behandlung, weil es in einer Phase stattfinde­t, in der ein Mensch die Regulierun­g seiner Emotionen erst lernen muss und abhängig von Menschen ist, denen er vertrauen kann. Erwachsene, die Traumatisc­hes erleben, haben damit bereits Erfahrung. Bei ihnen ist auch das Gefühl von Perspektiv­losigkeit nicht so stark, weil sie in der Regel bereits eine Phase in ihrem Leben hatten, in der sie sich auf die Zukunft gefreut haben.

Welche Folgen kann eine Traumatisi­erung im Kindesalte­r haben? MICHAEL Ich hatte es mit einer jungen Frau zu tun, die als Kind sadistisch­en Missbrauch erlebt hat. Es war ein Bekannter der Familie und die Eltern ignorierte­n es komplett. Obwohl sie sich im Keller einschloss, Blut im Schlüpfer hatte. Erst mit 28 saß die junge Frau dann mit versteiner­tem Blick vor mir und sagte nur einen Satz: „Man hat mir spitze Gegenständ­e eingeführt.“

Das klingt unerträgli­ch… MICHAEL Alltäglich­es wie Duschen war für sie die reinste Qual, weil sie ihren Körper berühren musste. Als ihre Schwester dann ein Baby bekam, beschloss die junge Frau plötzlich, den Kontakt zu ihr abzubreche­n. Sie konnte ihre Gefühle nicht einordnen und wusste nicht, ob sie Freude oder gar sexuelles Verlangen nach dem Baby empfand. Ein Trauma kann zu völlig absurden Annahmen führen.

Ist Menschen mit derartigen Erfahrunge­n noch zu helfen? Wie effektiv ist eine Traumather­apie? MICHAEL Traumather­apien sind, richtig angewandt, sehr erfolgreic­h. Ich kenne keinen Patienten, der noch nicht davon profitiert hat.

Wie läuft das ab?

MICHAEL Es gibt zwei Verfahren. Die traumafoku­ssierte kognitive Verhaltens­therapie und die EMDR-Methode. Erstere ist interaktiv­er. Die Emotionsko­ntrolle steuert der Therapeut im Gespräch. Bei der EMDR-Therapie muss sich der Patient auf einen hin- und herpendeln­den Finger konzentrie­ren und dabei seine Geschichte erzählen. Der Finger dient zur Kontrolle der Emotionen.

Was muss die Therapie leisten? MICHAEL Man muss mit dem Patienten wieder durch das Trauma durch. Mit allen negativen Emotionen. Das hängt damit zusammen, wie das Trauma im Gedächtnis gespeicher­t ist. Wenn wir unter normalen Bedingunge­n etwas Neues erfahren, filtert unser Gehirn das Wichtigste heraus. Bei Gefahr schaltet der Körper in den Überlebens­modus. Das Gehirn hat keine Zeit, das Geschehene einzuordne­n. Das Gedächtnis speichert alles ab: ein Warnmechan­ismus. Ein Trauma ist eine nicht verarbeite­te Gedächtnis­spur in Rohform, die nicht integriert wird. Wir müssen sie sozusagen in eine raffiniert­e Form überführen. Nur wenn wir das Trauma noch einmal durchgehen, merken wir, an welcher Stelle der Patient hängt.

„Gewalt ist kein Unterschic­htenphänom­en.“

Tanja Michael Traumafors­cherin

Sie halten heute Abend einen Vortrag mit dem Titel „Alle Erinnerung ist Gegenwart“. Kann und sollte man die Vergangenh­eit abschüttel­n?

MICHAEL Es geht nicht darum, das Trauma zu vergessen. Traumata können lebensbest­immend sein. Manche Menschen entdecken dadurch einen ganz neuen Lebenssinn. Es kann gar eine pushende Wirkung haben. Negative Ereignisse können Tiefe in das Leben bringen.

 ?? FOTOS: THEOBALD/DPA (2)/MOHR ?? Angst, Gewalt, Terror: In der heutigen Zeit ist es kaum verwunderl­ich, wenn immer mehr Menschen unter einem Trauma leiden. Bis Betroffene wieder ins Leben finden, ist es ein langer und steiniger Weg.
FOTOS: THEOBALD/DPA (2)/MOHR Angst, Gewalt, Terror: In der heutigen Zeit ist es kaum verwunderl­ich, wenn immer mehr Menschen unter einem Trauma leiden. Bis Betroffene wieder ins Leben finden, ist es ein langer und steiniger Weg.
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany