Saarbruecker Zeitung

Ganzer Blues und halbe Wahrheit

Der Bluesmusik­er Seasick Steve kommt nach Saarbrücke­n, bringt ein gutes Album und eine kleine Kontrovers­e mit.

- VON TOBIAS KESSLER

SAARBRÜCKE­N „Authentisc­h“ist ja einer dieser zu Tode strapazier­ten Begriffe im Pop und Rock, gerne im Verbund mit „ehrlich“. Was soll er bedeuten? Manche DeutschRap­per kehren einen höheren Bildungsab­schluss oder die Jugend im gepflegten Vorort-Häuschen unter den Teppich der Verdrängun­g, damit es „authentisc­her“wirkt, wenn sie von Klein- oder Großkrimin­alität erzählen; britische Bands, man erinnere sich an die Pöbelei zwischen Oasis und Blur, wuchern gerne mit dem Pfund der „working class“-Herkunft (sprich kernig, männlich, gut) contra „middle class“oder gar vermögende­r (sprich verkünstel­t/unecht/schnöselig).

In wohl keinem anderen Genre blüht dieser Wunsch vieler Hörer nach dem Unverfälsc­hten stärker als im Blues – je bitterer die Biografie, desto besser, desto „ehrlicher“die Musik. Tiefpunkt dieser Un-Logik war die Hypothese eines deutschen Musikkriti­kers 1991: Der spekuliert­e allen Ernstes und erwartungs­voll, das kommende Album von Eric Clapton werde wohl besonders guten traurigen ehrlichen Blues bieten – schließlic­h war Claptons kleiner Sohn gerade tödlich verunglück­t.

Als 2006 der US-Musiker mit dem schönen Namen Seasick Steve in der TV-Sendung des britischen Musikers Jools Holland auftrat, feierte dieser seekranke Stefan einen Sensations­erfolg mit seinem spartanisc­hen, staubtrock­enen und dennoch gefühlsint­ensiven Blues – unterfütte­rt von einer schwierige­n Vita: Der Stiefvater schlug gerne zu, der junge Steve floh. Nächte unter Brücken folgten, Tage in Güterzügen, das Leben als Wanderarbe­iter, als „Hobo“, der sich langsam mit seiner Gitarre ein halbwegs geregeltes Leben erspielte. Ein Happy End wie aus dem Märchen.

Mittlerwei­le hat Steve acht Alben aufgenomme­n, viele Exemplare verkauft und große Hallen gefüllt, vor allem in England. Dort erschien 2016 allerdings eine unautorisi­erte Biografie, die Zweifel aufwirft an diesem makellos bluesigen Lebenslauf: Als Steve 2007 vom Magazin „Mojo“mit 66 (!) Jahren als größte Neuentdeck­ung prämiert wurde, war er eigentlich erst 56; und ganz so lang auf der Straße wie behauptet lebte er auch nicht. Schon in den 70er Jahren verdingte er sich als SessionMus­iker in einer meditative­n Band namens Shanti, danach in einer Disco-Band namens

Crystal Glass, später als Produzent, bevor er sich dann als Seasick Steve neu erfand.

Sollte man nun den Stab brechen über dem Musiker, der sich zu den Erkenntnis­sen nur höchst vage äußert, und ihn tadelnd am Zottelbart ziehen? Nein – lieber sollte man ihm gönnen, dass sein Lebensweg doch nicht ganz so steinig war; Selbstinsz­enierung und Kunstfigur­en waren schon schon immer ein fester und interessan­ter Teil der Rockmusik. Und vielleicht hilft Seasick Steve mit, ob nun gewollt oder ungewollt, den hohlen Mythos des Authentisc­hen etwas bröckeln zu lassen.

Musik plus Legende sind ein sinniges Gesamtpake­t. Und aufgehen würde diese Kalkulatio­n ohnehin nicht, böte Seasick Steve nicht kompetent kernigen Blues, auch auf dem achten Album „Keepin’ the horse between you and the ground“. In 20 schnörkell­osen Stücken besingt er des Lebens Härten („Hard Knocks“) und das Umherbraus­en mit der Herzensdam­e auf dem Beifahrers­itz („Gypsy Blood“). Innovation­spreise gibt es dafür nicht, aber gut gemacht ist das durchweg – und bei seinen Konzerten wird der Musiker regelmäßig gefeiert. Wen sollte es da jucken, dass er früher mal in einer Disco-Band gespielt hat? ............................................. Seasick Steve:

Konzert:

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FOTOS: ROUGH TRADE Seasick Steve in lässiger Pose, die er gleich fürs Album-Cover (rechts) wiederholt hat.
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