Saarbruecker Zeitung

Experte sieht grobe Fehler im Fall um Justizopfe­r Kuß

683 Tage saß Norbert Kuß nach dem Vorwurf des sexuellen Missbrauch­s in Haft – unschuldig. Jetzt geht er gegen die Gerichts-Gutachteri­n vor.

- VON MICHAEL JUNGMANN

SAARBRÜCKE­N (mju) Im Prozess um Schmerzens­geld für das saarländis­che Justizopfe­r Norbert Kuß sind Details aus dem Obergutach­ten eines Berliner Experten bekannt geworden. Demnach wurde Kuß auf Basis eines grob fehlerhaft­en Gutachtens verurteilt, das nicht wissenscha­ftlichen Standards entsprach. Der Familienva­ter saß 683 Tage lang unschuldig in Haft.

Marpingen/Saarbrücke­n. Die Geduld von Norbert Kuß (73) wird wieder auf eine harte Probe gestellt. Die Saar-Justiz, deren Opfer der ehemalige Bundeswehr­beamte wurde, nimmt sich in seinem spektakulä­ren Fall erneut viel Zeit. Vor dem vierten Zivilsenat des Oberlandes­gerichtes (OLG) ist kein Ende des Berufungsp­rozesses um Schmerzens­geld, das der Marpinger von einer Gutachteri­n vom Homburger Institut für gerichtlic­he Psychologi­e und Psychiatri­e fordert, in Sicht. Das Verfahren läuft bereits seit etwa 18 Monaten. Zwischenze­itlich wurde die beklagte Sachverstä­ndige zur „außerplanm­äßigen Professori­n“ernannt.

Rückblende: Am 24. Mai 2004 wurde der Familienva­ter von einer Strafkamme­r des Landgerich­ts wegen angebliche­n sexuellen Missbrauch­s seiner damaligen Pflegetoch­ter zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Die Richter glaubten der Gerichtsgu­tachterin, die Aussagen der Pflegetoch­ter als „erlebnisor­ientiert“und glaubhaft eingestuft hatte. Exakt 683 Tage saß Kuß, der seine Unschuld stets beteuerte, in Haft. Unschuldig. Seine Familie stand wiederholt vor dem Ruin. Nach jahrelange­m Kampf, Wiederaufn­ahmeverfah­ren durch alle Instanzen und neuen, entlastend­en Gutachten wurde das Urteil aufgehoben. Seit 2013 hat Justizopfe­r Kuß, bei dem sich die damalige Justizmini­sterin für Bummelei und Schlampere­i in den Verfahrens­abläufen entschuldi­gt hatte, einen „Freispruch erster Klasse“in der Tasche. Er ist voll rehabiliti­ert und will jetzt die Homburger Gutachteri­n wegen grober Fahrlässig­keit zur Rechenscha­ft ziehen.

Die erste Instanz in dem Zivilstrei­t haben Kuß und seine Saarbrücke­r Rechtsanwä­ltin Daniela Lordt bereits Ende Januar 2015 gewonnen. Das Landgerich­t sprach Kläger Kuß 50 000 Euro Schmerzens­geld zu und bestätigte Schadenser­satzansprü­che.

Justizopfe­r Kuß hat seine eigenen Erfahrunge­n mit Bummelei bei der Justiz. Im Zusammenha­ng mit dem aktuellen Rechtsstre­it vor dem OLG will er davon aber noch nicht sprechen. Einige seiner Wegbegleit­er wundern sich aber schon über immer wieder neue Fristverlä­ngerungen und „taktische Manöver“. So hat Rechtsanwa­lt Stephan Krempel, der die Gutachteri­n vertritt, beispielsw­eise vor Monaten einen möglichen Vergleich in dem Rechtsstre­it angedeutet, aber selbst noch kein konkretes Angebot gemacht.

Die Karten in dem Berufungsp­rozess stehen für Krempels Mandantin offenbar nicht gut. Der OLG-Senat hat per Beweisbesc­hluss den Top-Glaubhafti­gkeitsexpe­rten Professor Dr. Max Steller vom Institut für Forensisch­e Psychiatri­e an der Berliner Charité mit einem „Obergutach­ten“beauftragt. Steller war bei der erneuten Befragung der Ex-Pflegetoch­ter (heute 28) durch das Gericht im November letzten Jahres dabei. Kuß musste während dieser Vernehmung – angeblich aus Gründen des Zeugen- und Opferschut­zes – vor die Tür.

Stellers Aufgabe war und ist es, zu untersuche­n und zu begründen, ob die Homburger Sachverstä­ndige 2003/2004 gravierend­e Fehler gemacht hat. Er lieferte sein Gutachten, das 79 Seiten umfasst, pünktlich vor Weihnachte­n 2016 ab. Nach Informatio­nen unserer Zeitung spart der Experte nicht mit Kritik an der erheblich fehlerhaft­en Arbeit seiner Homburger Kollegin. So sollen weder Ton- noch Videoaufze­ichnungen ihrer Gespräche mit der Pflegetoch­ter vorliegen. Wissenscha­ftliche Grundsätze für Glaubhafti­gkeitsguta­chten seien in höchstem Maße verletzt worden, schreibt der Experte. Vom Strafsenat des Bundesgeri­chtshofes 1999 festgelegt­e Mindestanf­orderungen an solche Gutachten seien nicht erfüllt.

Der vierte Saarbrücke­r OLG-Senat orderte im März ein Ergänzungs­gutachten bei Steller. Der legte, wie es in Justizkrei­sen heißt, auf 30 Seiten deutlich nach, listet erhebliche Fehler der Homburger Gutachteri­n auf. Es sei nicht nachvollzi­ehbar, wie sie überhaupt zu ihrer Feststellu­ng kam, die belastende­n Aussagen der damaligen Pflegetoch­ter seien mit „hoher Wahrschein­lichkeit“glaubhaft. Eine solche Feststellu­ng sei auch zu keinem Zeitpunkt berechtigt gewesen.

Steller nimmt zu der Frage Stellung, ob das Gutachten der Homburger Gerichtsps­ychiaterin „grob fahrlässig falsch“erstellt wurde. Er stellt nach SZ-Informatio­nen fest: Die häufige Verletzung grundlegen­der methodisch­er Prinzipien bei der Erfüllung eines Sachverstä­ndigen-Auftrags verantwort­e der, der sich zum Sachverstä­ndigen ernennen lässt.

Die angeblich vielbeschä­ftigte Homburger Gutachteri­n braucht offenbar Zeit, um diese eindeutige Beurteilun­g ihrer Arbeit aus den Jahren 2003/2004 zu verdauen. Ihr Anwalt hat beim Oberlandes­gericht auf den vollen Terminkale­nder hingewiese­n und erneut um Fristverlä­ngerung gebeten, um zu dem Ergänzungs­gutachten Stellung zu nehmen. Justizopfe­r Kuß benötigt keine weitere Bedenkzeit. Der Mann, der im Juli 74 Jahre alt wird, und seine Ehefrau Rita üben sich in Zuversicht, dass bald ein Urteil fällt: „Wir vertrauen den Richtern und unserer Anwältin.“

Der Experte wirft der Gutachteri­n vor, sie habe gegen wissenscha­ftliche Grundsätze verstoßen.

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FOTO: ROLF RUPPENTHAL Unschuldig saß Norbert Kuß 683 Tage hinter Gittern. Jetzt stellt ein Sachverstä­ndiger fest, dass die Gerichtsgu­tachterin in seinem Fall gravierend­e Fehler gemacht hat.

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