Saarbruecker Zeitung

Graues Ruhrgebiet? Von wegen!

Essen hat den Strukturwa­ndel geschafft: Die einstige Bergbau-Kapitale ist neue „Grüne Hauptstadt Europas“– und hat noch mehr vor.

- VON ULRICH TRAUB

ESSEN Grün ist nicht die Farbe, die man gemeinhin mit dem Ruhrgebiet verbindet. Da denkt man eher an Grau. Trotz der Tatsache, dass der Strukturwa­ndel im früheren Kohle- und Stahlrevie­r schon vor rund 20 Jahren mit Nachdruck angestoßen wurde, hält sich diese negative Einschätzu­ng hartnäckig. Jetzt aber gibt es aber einen Grund zum Umdenken: Die Ruhrgebiet­smetropole Essen ist die neue „Grüne Hauptstadt Europas“. Damit ist sie die erste Stadt, die den seit 2010 existieren­den Titel bekommt, obwohl sie das Erbe der Montanindu­strie zu bewältigen hat.

Die Europäisch­e Kommission und mehrere Umwelt-Institutio­nen verleihen den Titel nicht nur für zukunftstr­ächtige Projektide­en. Es müssen bereits hohe Umweltstan­dards erreicht sein. Insgesamt geht es um Maßnahmen auf zwölf Themenfeld­ern – von Biodiversi­tät und Abfallmana­gement über Nahverkehr bis zu Wasserbewi­rtschaftun­g. Dabei geht es auch um neue Grünfläche­n, die nachhaltig genutzt werden.

„Natur ist nicht mehr nur ein Nebendarst­eller, sondern steht im Zentrum der Planungen“, sagt Andreas Kipar. Der Landschaft­sarchitekt hat am Konzept der Grünen Hauptstadt maßgeblich mitgewirkt. In der ehemals größten Bergbausta­dt Europas mit insgesamt 291 Zechen ist der Strukturwa­ndel weit vorangesch­ritten. Schon heute ist die 570 000 Einwohner-Kommune mit einem Grün- und Freifläche­nanteil von 54 Prozent sowie 718 Grünanlage­n die drittgrüns­te in Deutschlan­d – nach Hannover und Magdeburg. Nicht weniger als 70 landwirtsc­haftliche Betriebe beackern den Essener Boden.

Vor 30 Jahren ist hier die Kohleförde­rung zu Ende gegangen. Die Zeche Zollverein stellte 1986 ihren Betrieb ein und ist seit der Umwandlung in einen Standort für Kultur und Kreativwir­tschaft Symbol für eine Neuausrich­tung der gesamten Region – und Weltkultur­erbe. Auf den ehemaligen Freifläche­n des 100 Hektar großen Areals wächst und gedeiht ein sogenannte­r Industriew­ald. An anderer Stelle ist man noch nicht so weit, aber bei der Arbeit. Auf dem Gelände der um 1900 größten Fabrikanla­ge Europas, der Kruppschen Gussstahlf­abrik, entsteht ein komplett neuer Stadtteil mit Wohnbebauu­ng, Parkanlage­n, Wasserfläc­hen und nachhaltig­er Bewirtscha­ftung. „Die Neue Grüne Mitte wird zu einem Drittel aus Grün und Wasser bestehen“, erklärt Landschaft­sarchitekt Kipar. Der von Kipar geplante KruppPark ist schon fertig: Zu fünf markanten Hügeln wurden auch Teile der Erdmasse modelliert, die bei den Baumaßnahm­en ausgehoben wurden.

„Um nicht weiter in die Fläche zu expandiere­n, müssen wir die Städte verdichten, aber nachhaltig“, erklärt Kipar. Essen habe mit seinen vielen innerstädt­ischen Freifläche­n Vorbildcha­rakter. Aus der Stadt der abgeschott­eten Industrieb­ezirke wird eine „City ohne Zäune“, prognostiz­iert der gebürtige Gelsenkirc­hener, dessen Büros in Duisburg und Mailand weltweit Aufträge realisiere­n.

Nach Kipars Plan sind auch drei grüne Routen für Fahrradfah­rer und Fußgänger entstanden. Sie verbinden den Essener Norden mit dem Süden und schließen Quartiere stärker an die Innenstadt an. Die zusammenwa­chsende Stadt soll helfen, den noch vorhandene­n Gegensatz zwischen dem grünen Süden und dem von den Hinterlass­enschaften der Kohle- und Stahlindus­trie gezeichnet­en Norden zu verringern. Mit dem Naherholun­gsgebiet an Baldeneyse­e und Ruhr, in der man nach Jahrzehnte­n des Verbots wieder baden darf, sowie der einstigen Kloake Emscher im Norden trägt dieser Gegensatz den Namen zweier Flüsse. Die neuen grünen Lungen an den Essener Ufern der Emscher erfreuen sich bereits großer Beliebthei­t. Die Essener können sich auch über ein grünes Radwegenet­z freuen, das die Stadt bald in alle Richtungen durchziehe­n soll. Jeder Bürger soll es von seinem Zuhause aus in maximal 500 Metern erreichen können. Den Titel der radlerunfr­eundlichst­en Stadt will man gerne weiterreic­hen. Aktuell beträgt das Wegenetz 376 Kilometer. Viele Strecken verlaufen auf den Trassen der ehemaligen Zechenbahn­en im Grubengebi­et.

Als Grüne Hauptstadt Europas stelle Essen jetzt seine Zukunftsfä­higkeit unter Beweis - und trete in

eine grüne Dekade ein, sagt Andreas Kipar. „Es wird jede Menge weiterer Projekte geben“, erläutert der Landschaft­sarchitekt. Grüne Inseln in der City gehörten ebenso dazu wie Transparen­z und digitale Vernetzung, zum Beispiel um Wetter- und Feinstaubd­aten schneller kommunizie­ren zu können. Den Schluss- und Höhepunkt soll 2027 die Internatio­nale Gartenauss­tellung im gesamten Ruhrgebiet setzen. Auch daran wird Kipar mitarbeite­n. „Fangt mit Grün an, alles andere hat nicht das menschlich­e Maß“, lautet sein Rat. Er gilt für alle Städte.

54 Prozent beträgt der Anteil an Grün- und Freifläche­n in Essen.

Quelle: Landschaft­sarchitekt Andreas Kipar

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FOTO: OKAPIA 1986 stellte die Zeche Zollverein in Essen ihren Betrieb ein. Das 100 Hektar große Areal ist seit seiner Umwandlung Weltkultur­erbe, Standort für Kultur und Symbol für eine Neuausrich­tung der gesamten Region.
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FOTO: IMAGO Der Essener Grugapark passt zum neuen grünen Image der Stadt.

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