Saarbruecker Zeitung

Der Schuss, der die Republik veränderte

Der Tod von Benno Ohnesorg vor 50 Jahren war eine Zäsur: Mit den Polizeisch­üssen auf den Berliner Studenten begann in Deutschlan­d eine Zeit der Unruhe – und der Umwälzunge­n.

- VON NILS SANDRISSER UND CHRISTOPH SCHMIDT

FRANKFURT/BERLIN (epd/kna) Die Kugel trifft oberhalb des rechten Ohrs. „Bist du wahnsinnig, hier zu schießen?“, herrscht ein Polizist seinen Kollegen Karl-Heinz-Kurras an. Neben ihnen liegt der Student Benno Ohnesorg auf dem Boden, ein dünner Faden Blut rinnt aus seinem Kopf. Seit knapp einer Woche sind der persische Schah Mohammed Reza Pahlavi und seine Gemahlin Farah Diba in Berlin zu Gast. Die Pahlavis sind nicht bloß ein von der Boulevardp­resse gefeiertes Ehepaar. Ihr Land ist eine brutale Diktatur. 800 bis 1000 Demonstran­ten treffen sich daher am 2. Juni 1967, sie rufen „Schah, Schah, Scharlatan“und „Mörder, Mörder“. Tomaten und Farbbeutel fliegen. Die Polizei prügelt brutal, eingefloge­ne „Jubelperse­r“noch brutaler.

Einer der Demonstran­ten ist der 26-jährige Benno Ohnesorg. Ein Pazifist und Gedichtesc­hreiber, den Freunde als zurückhalt­end und ungemein belesen beschreibe­n. An der Freien Universitä­t studiert er Romanistik und Germanisti­k, einen Monat zuvor hatte er seine schwangere Freundin geheiratet. Die Proteste gegen autoritäre­n Uni-Mief und Vietnamkri­eg, gegen die Ausbeutung der Dritten Welt und Altnazis in Amt und Würden teilt Ohnesorg zwar, politisch ist er jedoch kaum aktiv. Die Berichte über das Folterregi­me des Schah, den die Bundesregi­erung nun hofierte, bringen auch ihn auf die Straße, auf Sandalen hinein in einen Tag voller Gewalt. „Autonomie für die Teheraner Universitä­t“malt er auf einen Kissenbezu­g und nimmt ihn mit auf die Demo vor der Oper.

Gegen 20 Uhr verbreitet die Polizei die Nachricht, dass Protestier­ende einen Beamten erstochen hätten. Eine Falschmeld­ung. Doch die Polizisten zücken die Schlagstöc­ke und treiben die Menschen auseinande­r. In einem Hinterhof stellen sie eine Gruppe Fliehender, es gibt ein Gerangel. Dann fällt der Schuss. Der schwer verletzte Ohnesorg stirbt im Rettungswa­gen auf der Fahrt ins Krankenhau­s Moabit. Die Berliner Polizei versucht, die Umstände von Ohnesorgs Tod zu vertuschen. Sogar die Ärzte im Moabiter Krankenhau­s machen mit. Sie nähen die Schusswund­e an Ohnesorgs Leiche zu und geben dessen Todesursac­he mit „Schädelbas­isbruch“an.

Der Einsatzlei­ter der Polizei erklärt, er habe Kurras in jenem Hinterhof gar nicht gesehen. Kurras selbst sagt im November 1967 vor Gericht aus, er sei von einer Meute mit Messern angegriffe­n worden, als sich ein Schuss aus seiner Pistole gelöst habe – „nur mit Zutun der mich bedrängend­en Demonstran­ten“. Obwohl nur einer von etwa 80 Zeugen seine Version bestätigt, spricht das Gericht Kurras vom Vorwurf der fahrlässig­en Tötung frei. Eine Anklage wegen Totschlags hatte es gar nicht erst zugelassen. Auch ein Revisionsv­erfahren endet 1970 mit einem Freispruch.

Der tödliche Schuss wird für die linke Studentenb­ewegung zum Fanal. Der Schah, Vietnam, der Protest gegen alte Nazis und die Kugel im Kopf Ohnesorgs – all das gerinnt zu einem wütenden Aufstand gegen die alte Ordnung. Die sogenannte­n 68er krempeln damit letztlich die gesamte Gesellscha­ft der Bundesrepu­blik um. Auch ganz radikale Töne werden laut. Noch in der Nacht zum 3. Juni schreit eine junge Frau während einer Versammlun­g des Sozialisti­schen Deutschen Studentenb­unds: „Wir müssen Widerstand organisier­en! Gewalt kann nur mit Gewalt beantworte­t werden.“Diese Frau heißt Gudrun Ensslin und wird später zu einem der führenden Mitglieder der Terror-Organisati­on Rote Armee Fraktion (RAF). Zum ersten Mal tritt diese Gruppe um Ensslin und Andreas Baader am 2. April 1968 in Erscheinun­g, als sie zwei Kaufhäuser in Frankfurt anzünden. Banküberfä­lle, Morde und Bombenansc­hläge folgen. Eine andere Terrorgrup­pe, die Berliner „Bewegung 2. Juni“, benennt sich sogar nach Ohnesorgs Todesdatum. Ralf Reinders, ehemals Mitglied dieser Bewegung, erklärte

„Bitte, bitte, nicht schießen!"

Die letzten Worte von Benno Ohnesorg, bevor er aus nächster Nähe erschossen wurde

einst zur Namenswahl: „Dieses Datum wird immer darauf hinweisen, dass sie zuerst geschossen haben.“Die „Bewegung 2. Juni“geht später in der RAF auf.

Jahrzehnte nach Ohnesorgs Tod kommt heraus: Der Schütze Kurras war Agent bei der ostdeutsch­en Staatssich­erheit, Tarnname „Otto Bohl“. Mitarbeite­r der StasiBehör­de finden im Jahr 2009 dessen Akte. Aber auch wenn der Schuss der Studentenb­ewegung Schub gibt: Das war wohl nicht die Absicht der Stasi, Kurras war kein Agent provocateu­r. Dennoch ist denkbar, dass er mit dem Schuss am 2. Juni 1967 im Auftrag des OstGeheimd­ienstes gehandelt hat, erläutert der Berliner Historiker Jochen Staadt: „Kurras wusste seit Januar 1967 von einem Überläufer, der in den Westen geflohen war.“Dessen Name war Bernd Ohnesorge. Möglicherw­eise also glaubt Kurras an jenem Abend, diesen Überläufer vor sich zu haben. „Es ist denkbar, dass er den Namen Benno Ohnesorg gehört oder in dessen Ausweis geschaut hat“, sagt Staadt. Auch andere Gründe für den Schuss sind denkbar: Mehrfach hatte sich Kurras im Kollegenkr­eis abfällig über jene geäußert, die auf der Straße gegen die bleierne Atmosphäre der konservati­ven Republik aufbegehrt­en. „Bei der deutschen Polizei fand man die Studenten ekelhaft“, sagt Staadt, „das galt für Ost wie für West.“Protestier­en gehörte sich für die Beamten eben nicht.

Hinzu kommt: Sogar der Stasi war eine „charakterl­iche Schwäche“ihres Spions aufgefalle­n, wie es in einem Dossier heißt. Kurras sei „sehr verliebt in Waffen“und habe einen „übermäßige­n Hang zum Uniformtra­gen“. Karl-Heinz Kurras stirbt Ende 2014. Anlass für Selbstkrit­ik sieht er offenbar sein ganzes Leben lang nicht. „Ich hätte

hinhalten sollen, dass die Fetzen geflogen wären, nicht nur einmal“, sagt er in einem Interview im Jahr 2007. „Fünf, sechs Mal hätte ich hinhalten sollen. Wer mich angreift, wird vernichtet. Aus. Feierabend.“

Jenseits dieses Hasses und der politische­n Umwälzunge­n bleibt die persönlich­e Trauer. Lukas Ohnesorg kam erst nach dem Tod seines Vaters zur Welt. Seine Mutter Christa war bei der Demonstrat­ion dabei gewesen, aber früher nach Hause gegangen. Sein Vater sei so jung gestorben, sagt Lukas Ohnesorg heute: „Schade, dass ich ihn nie kennengele­rnt habe.“

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FOTO: HENSCHEL/AKG-IMAGES/DPA 2. Juni 1967: Ein junger Mann liegt auf dem Boden, fast friedlich, die Augen geschlosse­n, überall ist Blut: Das Foto des sterbenden Benno Ohnesorg wurde zum Symbol einer Epoche.
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FOTO: DPA Karl-Heinz Kurras 2009. Bis heute ist rätselhaft, warum der Polizist abdrückte.
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FOTO: DPA Das Grab von Benno Ohnesorg und seiner Frau Christa auf dem Bothfelder Friedhof in Hannover.

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