Die Jäger des Tödlichen Quartetts
Forscher der Saar-Uni suchen eine gemeinsame Ursache der gefährlichsten Zivilisationskrankheiten unserer Zeit.
HOMBURG Die Saar-Universität kann Spitzenforschung. Zwei Auszeichnungen in der Exzellenz-Initiative, dem Bundeswettbewerb der Hochschulen in Deutschland, haben das bewiesen. Doch die Meriten, welche die Uni errang, beruhten auf den Erfolgen eines einzigen Fachs: der Informatik. Und das ist nicht genug, sagt Professor Manfred Schmitt, der neue Präsident der Hochschule. Die Saar-Uni brauche künftig „ein zweites Standbein auf ExzellenzEbene“. Und so startet sie in diesem Jahr außer in der Informatik auch mit einem Projekt der Biowissenschaften in die neue Runde des Hochschulwettbewerbs.
Unter der Überschrift „Calcium-Signaturen“wollen sich 25 Forscher in Homburg und Saarbrücken auf die Suche nach der Ursache der größten Volkskrankheiten unserer Zeit machen. Die Mediziner bezeichnen sie als das Tödliche Quartett – sie meinen die Kombination aus Übergewicht, erhöhten Blutfettwerten, Blutzucker und Bluthochdruck. Das korrekt als Metabolisches Syndrom bezeichnete Quartett führt zu Diabetes, Herzinfarkt, Schlaganfall, und ist wahrscheinlich auch Auslöser der Alzheimer-Demenz. Das Forscherteam, dessen designierter Sprecher der Homburger Physiologie-Professor Jens Rettig ist, geht davon aus, dass diese Krankheiten eine Gemeinsamkeit haben – eine Störung in der Kommunikation der Körperzellen. Dabei spielt ein Schlüsselelement die Hauptrolle: Calcium.
Kommunikation? Tatsächlich. Die 100 Billionen Zellen des menschlichen Körpers stehen in ständigem Datenaustausch mit ihren jeweiligen Nachbarn. Nur so können sie sich zu größeren Einheiten organisieren, den Organen. Der Botenstoff, den Zellen zum Nachrichtenaustausch nutzen, ist das Calcium. Calcium kommt in allen Körperflüssigkeiten in wasserlöslicher Form vor – der Fachausdruck lautet Ionen.
Jede Körperzelle besitzt in ihrer Hülle eine große Zahl winziger Poren, die nur diese Ionen passieren lassen. Schon geringste Schwankungen der Calcium-Konzentration in einer Zelle lösen dort binnen millionstel Sekunden biochemische Reaktionen aus. „Ist die Verarbeitung dieser Calcium-Signale gestört, dann führt das zu Krankheiten“, erklärt Jens Rettig. Die Experten sprechen von „gestörten Calcium-Signaturen“. Sie sind bereits von einigen Herzleiden bekannt. Der Gedanke, diesen Effekt bei der Suche nach den rätselhaften Ursachen der großen Volkskrankheiten genauer unter die Lupe zu nehmen, ist allerdings neu. „Das kann man als mutigen Schritt auf ein neues Forschungsfeld sehen, aber bei einem millionenschweren Antrag zur Exzellenzinitiative auch als wissenschaftliches Risiko betrachten“, räumt Jens Rettig ein. Für den Neurophysiologen, der seit acht Jahren einen Sonderforschungsbereich zu diesem Thema leitet, ist allerdings klar: „Wir machen hier etwas Innovatives.“
Dazu gehöre zum Beispiel ein großes Forschungsprogramm, an dem Patienten der Homburger Uni-Kliniken teilnehmen sollen und Hochleistungssportler, die vom Institut für Sportmedizin in Saarbrücken betreut werden. Zusätzlich gibt es eine Sportlergruppe, bei der Calcium-Signaturen vor und nach dem Training bestimmt werden. Mediziner wollen in den Blutproben hunderter Testpersonen Calcium-Signaturen isolieren, Bioinformatiker sollen diesen Datenwust so strukturieren, dass die anderen Forscher ihn auf typische Muster untersuchen können, anhand derer sich gesunde von kranken Zellen abgrenzen lassen. Wenn veränderte CalciumSignaturen als Hinweis auf beginnenden Bluthochdruck oder Diabetes gelesen werden können, könnten die Krankheiten viel früher als heute erkannt, besser behandelt und vielleicht sogar verhindert werden, hofft Jens Rettig.
25 Wissenschaftler aus Homburg und Saarbrücken haben sich für die Bewerbung zur Exzellenzinitiative zusammengetan. „Bei uns ist alles versammelt, was Rang und Namen hat, von der Medizin über die Naturwissenschaften bis zur Bio-Informatik“, sagt Jens Rettig. Und wenn er dann nachschiebt: „Wer werden versuchen, das Aussichtslose zu erreichen“, dann hat das nicht mit plötzlich aufkommenden Zweifeln an der eigenen Idee zu tun. Es geht um schlichte Statistik und einen Wettbewerb, der mit dem Adjektiv knallhart zurückhaltend umschrieben ist.
Bundesweit sind 195 Anträge zur Exzellenzinitiative bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) eingegangen, die den Wettbewerb organisiert. Doch nur die Hälfte wird die erste Stufe des Auswahlprozesses im September überstehen. Übrig bleiben 90 Bewerber, die bis zum Frühjahr 2018 detaillierte Forschungsprojekte präsentieren müssen. Davon wird wieder die Hälfte aussortiert, weil die Fördermittel von 385 Millionen Euro pro Jahr nur für 45 bis 50 Exzellenzcluster ausreichen, erklärt die DFG. Das klingt hart? Es kommt noch schlimmer: Weil am Forschungswettbewerb auch die 43 bestehenden Cluster der vergangenen Runde teilnehmen, die einen riesigen wissenschaftlichen Vorsprung herausgearbeitet haben, wird es für Neulinge extrem schwierig, einen Platz an der Sonne zu ergattern. „Wenn wir das Ganze realistisch betrachten“, erklärt Jens Rettig, „können wir von einem Erfolg sprechen, wenn wir im Herbst die zweite Runde des Wettbewerbs erreichen sollten.“Doch das war mit Sicherheit purer Zweckpessimismus. Denn der Wissenschaftsrat, der vor drei Jahren den Forschungsschwerpunkt an der Saar-Uni unter die Lupe nahm, bescheinigte ihm hernach in seinem Gutachten internationales Renommee.
„Wir machen hier etwas Innovatives.“Professor Jens Rettig Saar-Universität