Saarbruecker Zeitung

Ruhig bleiben in Zeiten des Terrors

- VON CHRISTOPH DRIESSEN

Das halbvolle Glas Bier ist zum Symbol geworden – in London, das sich vom Terror nicht unterkrieg­en lassen will. Ist das ein Modell für alle? Wie sollen wir umgehen mit den immer neuen Anschlägen? Eines ist klar: Die Gesellscha­ft verändert sich.

(dpa) Gerade aufgestand­en, erster Blick aufs Handy: Schon wieder ein Terroransc­hlag! Wie oft hat es diesen Moment in letzter Zeit gegeben. Die Abstände dazwischen scheinen immer kürzer zu werden. Am Sonntag gedachte Manchester mit einem Benefizkon­zert der Toten des Anschlags vom 22. Mai – aber zu diesem Zeitpunkt waren in London schon wieder sieben neue Opfer zu beklagen. „Der Blitz schlägt niemals zweimal am selben Ort ein“, sagt ein Sprichwort. Doch beim Terror gilt das nicht mehr. Zweimal wurde London in den vergangene­n drei Monaten getroffen, und beide Male fuhren die Täter auf einer Brücke mit Autos in eine Menschenme­nge und gingen anschließe­nd mit Messern auf Zufallsopf­er los.

Die Häufung der Anschläge erzeugt ein Klima stetiger Alarmierun­g. „Wir werden wohl auf lange Zeit mit dem Terror leben müssen“, hat Bundesinne­nminister Thomas de Maizière (CDU) in seiner Reaktion auf den Anschlag von London gesagt. „Gewöhnen an ihn werden wir uns nicht.“Natürlich: Man darf sich nicht daran gewöhnen. Aber tut man es nicht doch? Nach jedem Anschlag schießt die öffentlich­e Erregungsk­urve nach oben, doch der Einbruch folgt immer schneller. Der Anschlag von Stockholm: Was geschah da nochmal genau? Die „Pray for“-Hashtags im Internet, die Solidaritä­ts-Bekundunge­n im Stil von „Je suis Charlie“nach den Anschlägen auf das Satire-Magazin „Charlie Hebdo“– sie werden seltener, und wo es sie noch gibt, wirken sie mitunter wie Rituale. Manch einer beobachtet bei sich selbst, dass er im Freundeskr­eis weniger über Anschläge spricht als zuvor.

Anders ist es, wenn man einen persönlich­en Bezug hat. Wer zufällig an der Berliner Gedächtnis­kirche vorbeifähr­t und dann sieht, dass dort noch immer Blumen für die Opfer des Anschlags auf den Weihnachts­markt liegen, der kann für einen Moment wieder ehrlich bewegt sein. Im Allgemeine­n aber gilt: Die Anschlagsf­requenz der islamistis­chen Attentäter überforder­t auch den hartgesott­ensten Nachrichte­n-Junkie. Wenn man das Leid jedes Mal richtig an sich herankomme­n ließe, könnte man den Alltag kaum noch bewältigen. „Ich würde das nicht Abstumpfun­g nennen“, sagt der Psychiater Borwin Bandelow. „Das ist eine natürliche Abwehrreak­tion. Keiner muss sich deshalb als gefühllos betrachten, wenn er bei sich bemerkt, dass er da zur Tagesordnu­ng übergeht.“

Kurz innehalten, aber dann weiterlebe­n, als wäre nichts gewesen – das entspricht der Devise, die von Politikern und Terror-Experten ausgegeben wird: „Keep calm and carry on“- ruhig bleiben und weitermach­en. London ist darin besonders gut. Man nennt es dort „Blitz Spirit“– inspiriert von jener typisch englischen Mischung aus Phlegma und Todesverac­htung, die die Londoner während der deutschen Bombardier­ung im Zweiten Weltkrieg („The Blitz“) an den Tag legten. Am Wochenende ging ein Video um die Welt, das einen Londoner auf der Flucht vor den Attentäter­n zeigt – mit einem halbvollen Glas Bier in der Hand. Den Triumph, es zurückzula­ssen, wollte er den Terroriste­n anscheinen­d nicht gönnen. Verärgerun­g löste dagegen eine Schlagzeil­e der „New York Times“aus: „Terrorangr­iffe im Herzen Londons hinterlass­en sechs Tote in einer noch taumelnden Nation.“Taumeln? Von wegen! Viele Briten verbreitet­en daraufhin in den sozialen Netzwerken Beispiele für das, was sie wirklich fertigmach­t: zum Beispiel Leute, die ihren Tee in der Mikrowelle erhitzen.

Das ist der britische Humor – man kann ihn nur bewundern. Aber was ist mit all jenen, denen angesichts der Morde nun mal gar nicht nach Scherzen zumute ist? Und die sich keineswegs sicher sind, ob sie ihr Verhalten nicht doch anpassen werden? Darf man das öffentlich nicht mehr sagen – aus Angst vor dem Vorwurf, man tue damit genau das, was die Terroriste­n erreichen wollten? Jeder, der mit solchen Fragen hadert, kann sich sagen: Die allermeist­en Menschen sind nicht so gestrickt, dass sie sofort wieder zur Tagesordnu­ng übergehen. Sie versuchen durchaus, ihr Risiko zu minimieren. So brach der Tourismus in Tunesien nach dem Anschlag auf ein Strandhote­l im Juni 2015 fast vollständi­g ein. In New Yorker Schuhläden waren nach den Anschlägen vom 11. September 2001 eine ganze Zeit lang vor allem bequeme Treter gefragt: Es hatte sich herumgespr­ochen, dass man auf Pumps nicht so gut weglaufen kann.

Die Erfahrung lehrt aber auch etwas anderes: Mit der Zeit ebbt jeder Schock ab. „Menschen können sich auch an die schlimmste­n Gefahrensi­tuationen anpassen“, sagt der Psychiater Bandelow. „Denken Sie an Leute, die in Gegenden mit einer sehr hohen Kriminalit­ätsrate leben. Da ist es einfach so, dass sie sich daran gewöhnen. Das heißt also: Selbst wenn in Deutschlan­d noch sehr viel mehr passieren würde, würde unsere Lebensqual­ität – und das ist ja das Wichtigste – nicht dauerhaft sinken. Die Leute werden weiter zu Rock am Ring gehen.“

Darauf deuten auch Erkenntnis­se des Allensbach-Instituts hin. Die Mehrheit der Deutschen, etwa zwei Drittel, wolle ihr Verhalten nicht ändern, berichtete Allensbach-Chefin Renate Köcher im vergangene­n Jahr in einem „FAZ“-Beitrag. „Insbesonde­re die junge Generation ist entschloss­en, ihren Lebensstil und ihre Freiheitss­pielräume zu verteidige­n.“Gleichzeit­ig erwarten die Bürger, dass der Staat alles tut, um den Terror zu bekämpfen.

Politiker wissen das. Deshalb entfalten sie nach einem Anschlag für gewöhnlich eine auffällige Aktivität. Die britische Premiermin­isterin Theresa May stellte keine 24 Stunden nach dem Londoner Anschlag einen Vier-Punkte-Plan vor, der unter anderem längere Haftstrafe­n für Terrorverd­ächtige und eine stärkere Überwachun­g des Internets vorsieht. Der frühere Premiermin­ister Tony Blair tat nach den schweren Anschlägen in der Londoner U-Bahn 2005 genau das gleiche. May sprach auch davon, dass sie den radikalen Islamismus in der britischen Gesellscha­ft „ausrotten“wolle und die „Shoot to Kill“-Taktik der Polizei unterstütz­e, das Schießen in Tötungsabs­icht. Die Sprache des viel beschworen­en „Keep calm“ist das nicht.

Der Terrorismu­s, so sagt der Philosoph Peter Sloterdijk, sei „beliebig formbar, man kann mit ihm fast jede Maßnahme rechtferti­gen“. In einem Interview wies er kürzlich darauf hin, in Deutschlan­d seien 2016 „zehn Mal mehr Menschen durch Badeunfäll­e als durch Terror“umgekommen.

Sehr rationalen Menschen mögen solche statistisc­hen Vergleiche helfen. Alle anderen werden ein komisches Gefühl haben, wenn sie das nächste Mal ein Konzert besuchen, als Tourist über die London Bridge schlendern oder im Dezember zum Weihnachts­markt gehen. Hingehen werden sie wohl dennoch.

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STUDIO ?? Mit einem Glas Bier in der Hand floh ein Londoner am Wochenende vor den Attentäter­n – aber er ließ es nicht zurück. Damit wurde das Glas Bier zum Anti-Terror-Symbol.
FOTO: FOTOLIA/AFRICA STUDIO Mit einem Glas Bier in der Hand floh ein Londoner am Wochenende vor den Attentäter­n – aber er ließ es nicht zurück. Damit wurde das Glas Bier zum Anti-Terror-Symbol.
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