Saarbruecker Zeitung

„Früher hatten Eltern mehr Gelassenhe­it“

Was ein pensionier­ter Kinderarzt aus Saarbrücke­n über Handys für Kinder, Allergien, Impfgegner und die „Ehe für alle“denkt.

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SAARBRÜCKE­N Wer in den vergangene­n 40 Jahren im Saarland ein Kind war oder mal mit einem kranken Kind beim Arzt, ist ihm mit einiger Wahrschein­lichkeit begegnet: Dr. Klaus Kühn hatte in dieser Zeit in eigenen Praxen in Neunkirche­n und Saarbrücke­n rund 250 000 Patientenk­ontakte. Seit zweieinhal­b Jahren ist der 69-Jährige im Ruhestand. Er engagiert sich weiterhin im Verband der Kinder- und Jugendärzt­e im Saarland, nimmt für den Verband am „Runden Tisch Kindergesu­ndheit“teil und kümmert sich auch privat um jugendmedi­zinische und sozialpoli­tische Themen. Herr Kühn, vergangene Woche haben Kinderärzt­e und Verbrauche­rschützer in einem offenen Brief an die Bundesregi­erung erneut strengere Regeln für die Lebensmitt­elindustri­e gefordert. Hintergrun­d ist auch die hohe Zahl übergewich­tiger Kinder. Wie schlimm ist die Lage?

KÜHN Rund sechs Prozent der Kinder in Deutschlan­d sind stark übergewich­tig, also adipös. Weitere knapp 15 Prozent haben Übergewich­t. Die Zahlen sind seit Jahren auf hohem Niveau konstant, die Lage ist also wirklich besorgnise­rregend.

Woran liegt das?

KÜHN Kinder bewegen sich heute weniger als früher, weil sie durch die „neuen Medien“abgelenkt werden, sie sitzen mehr am Computer, vor dem Fernseher und am Smartphone. Studien zeigen, dass vielen Kindern neben Schlafen, Essen, Schule und neuen Medien nicht mal mehr eine Stunde für Bewegung bleibt. Und ob sie die nutzen, ist dann noch eine ganz andere Sache. Das Robert-Koch-Institut hat sogar herausgefu­nden, dass 25 Prozent der Kinder in Deutschlan­d in einer Woche (!) weniger als eine Stunde Sport in irgendeine­r Form betreiben. Hier finden sich Kinder aus armen Familien, weibliche Jugendlich­e, und ganz besonders Mädchen mit Migrations­hintergrun­d.

Auf der einen Seite ist Sport im Leben unserer Kinder hochorgani­siert, viele Kinder werden von ihren Eltern zum Fußball oder Tennis oder anderen Sportarten gebracht. Auf der anderen Seite trifft man auf Familien, die nur zu Hause sitzen. Und dabei bräuchten Kinder Bewegung so nötig wie gesundes Essen. Kinder sind nicht wie wir Erwachsene­n Kopfmensch­en, sondern lernen sehr viel über körperlich­e Erfahrunge­n, springen, hüpfen, rennen, toben. Kinder, die sich wenig bewegen, laufen nicht nur Gefahr, übergewich­tig zu werden, sondern machen auch weniger Sinneserfa­hrungen. Für Kinder gilt: Alles Lernen ist Bewegung.

Welche Rolle spielt die Ernährung?

KÜHN Natürlich eine große. Wir leben in einer reichen Gesellscha­ft, in der man Nahrungsmi­ttel im Überfluss finden kann. Ein Kind, das durch einen Supermarkt geht, kann sich doch nicht mehr retten vor Versuchung­en. Es ist überforder­t. Warum brauchen wir 100 Sorten Joghurt? Warum brauchen wir „Kindernahr­ungsmittel“wie Fruchtzwer­ge oder Milchschni­tte, die müsste man komplett verbieten. Die haben keinen zusätzlich­en Wert, sondern sind nur süß und fett. Viele Kinder scheitern mit ihren guten Vorsätzen, ausgewogen­er zu essen, wenn sie so beeinfluss­t werden. Fast Food an jeder Ecke, billiges, minderwert­iges Schulessen, aggressive Werbung für ungesunde Fertiglebe­nsmittel. Hier ist die Politik gefragt, sich für entspreche­nde Lebensmitt­elkennzeic­hnung, verbindlic­he Standards für Schul- und Kita-Verpflegun­g einzusetze­n. Dies bleibt sie aber bis heute schuldig. Sie fordern ein Verkaufsve­rbot für Kinderlebe­nsmittel?

KÜHN Zumindest muss die Werbung dafür aus der Öffentlich­keit raus. So

wie man Werbung für Alkohol und Zigaretten eingeschrä­nkt hat. Alles, was Kinder brauchen, ist in den normalen Lebensmitt­eln drin. Doch viele vertragen normale Lebensmitt­el nicht mehr. Haben entspreche­nde Allergien wirklich so exorbitant zugenommen?

KÜHN Sie haben zugenommen, keine Frage. Aber vieles ist hier noch unklar. Es ist auch nicht so schlimm, wie es den Anschein haben mag, weil so viel darüber gesprochen wird. Allergien und vorübergeh­ende Unverträgl­ichkeiten werden oft verwechsel­t. Gluten zum Beispiel löst keine Allergie im klassische­n Sinne aus. Lactose- und Fruktose-Intoleranz­en sind keine Allergien und im Kindesalte­r seltener als angenommen. Man kann sie heute gut diagnostiz­ieren und nur bei eindeutig positivem Befund sollte man sie auch behandeln; nicht, wenn nur eine Annahme besteht. Teilweise ist Ernährung heutzutage zu einer Ersatzreli­gion geworden. Manche Leute glauben nicht mehr an Gott, sondern an andere Dinge. Manche entwickeln etwa bei veganem Essen eine regelrecht­e Angst, sich etwa mit Milch oder Eiern zu vergiften, und ziehen ihre Kinder da mit hinein. Das ist unverantwo­rtlich und grenzt in extremen Fällen an Körperverl­etzung. Welche Rolle spielen Kitas heute bei der Erziehung? Wie sind Ihre Erfahrunge­n?

KÜHN Ich war als Kind selbst nie in einem Kindergart­en, zu meiner Zeit gab es keinen in Thalexweil­er, wo ich aufgewachs­en bin. Da war man auf Gedeih und Verderb dem ausgeliefe­rt, was in der Familie an Erziehung angeboten wurde. Das war natürlich auch nicht immer toll. Ich finde es heute total wunderbar, wenn Kinder in eine Kita gehen können. Dort sind sie unter Gleichaltr­igen, können soziale Kontakte aufbauen, was vor allem für Einzelkind­er wichtig ist. Nur müssten diese Einrichtun­gen kostenlos sein, damit auch einkommens­schwache Familien auf diese Erziehungs­hilfe nicht verzichten müssen. Wir leben in einem reichen Land, in dem jedes Jahr Milliarden-Steuerüber­schüsse gemacht werden. Wenn wir uns das nicht leisten können, wer denn dann? Ist die Landesregi­erung also auf dem richtigen Weg, wenn sie verspricht, dass die Kita-Gebühren bis 2022 um rund 25 Prozent sinken werden?

KÜHN Der Weg ist richtig, aber 25 Prozent in fünf Jahren? Das geht mir

zu langsam. Ich halte das für eine Beruhigung­spille. Den Kindern von heute nützt es überhaupt nichts mehr, wenn Dinge in drei, vier Jahren angegangen werden – und ob das dann überhaupt noch passiert, steht in den Sternen. Es hat sich zwar vieles getan, aber ich bin von der Politik trotzdem enttäuscht. Wir haben ja kein Erkenntnis­problem, sondern ein Umsetzungs­problem. Kinder brauchen Eltern, die sich kümmern. Wie ist Ihre Meinung zur kürzlich beschlosse­nen „Ehe für alle“, die ja auch Adoptionen leichter macht? Zwei Mütter oder zwei Väter – ist das ein Problem?

KÜHN Nein, ich sehe da keine Unterschie­de und absolut keine Gefahr für das Kind. Ich hatte in den vergangene­n Jahren mehrere lesbische Paare in meiner Praxis, das waren tolle Mütter. Gerade, weil sie gegen gesellscha­ftliche Vorurteile kämpfen müssen, haben sie sich vielleicht noch mehr Mühe gegeben. Nähe, Zuversicht, Liebe und Zärtlichke­it sind wichtig für ein Kind. Und es ist völlig egal, ob es dann zwei Mamas oder zwei Papas hat – einen offenen Umgang mit der Situation vorausgese­tzt. Überall, wo ein Kind ist, ist eine Familie. Große Teile der Gesellscha­ft dürften darüber (noch) anders denken.

KÜHN Das kann sein. Aber wir leben in einem Jahrhunder­t, in dem man Homosexual­ität allmählich als normal anerkennen könnte. Ich kann mich noch gut an die Diskrimini­erung von Schwulen erinnern, speziell auf dem Land, als es hieß, das ist ein „175er“. Damit war er gebrandmar­kt. Das war ganz schlimm. Dass Homosexual­ität eine Krankheit ist, wie es früher viele meinten, von dieser Vorstellun­g müssen wir uns endlich distanzier­en. Wenn jemand schwul ist, mein Gott, dann ist es eben so. Machen sich Eltern heute zu schnell zu viele Sorgen?

KÜHN Früher hatten Eltern mehr Ruhe und Gelassenhe­it. Vor allem, weil sie oft mit den Großeltern unter einem Dach gelebt haben. Die konnten dann aus ihrem Erfahrungs­schatz manche Dinge besser einschätze­n. Das war nicht immer alles richtig, manches war überholt, manchmal hat sich die Oma auch geirrt oder sich zu häufig eingemisch­t. Aber es hat die jungen Eltern beruhigt und entlastet.

Eltern waren weniger gestresst?

KÜHN Ja, heute leben junge Eltern nur noch relativ selten mit den eigenen Eltern zusammen, viele leben nicht mal in der gleichen Stadt. Dazu kommt die berufliche Situation. Ich habe oft erlebt, wie mich Eltern in der Praxis mit großen Augen

angeschaut haben, als sie erfuhren, dass ihr Kind nicht in die Kita kann, weil es zu krank war. Wie sieht es mit der Unterstütz­ung der Väter aus?

KÜHN Es gibt sie, die „neuen Väter“. Aber nicht in großer Anzahl. Wie haben sich die Schwerpunk­te Ihrer Tätigkeit im Laufe der Jahrzehnte verändert?

KÜHN Es geht heute in unserem Beruf weniger um organische Befindlich­keiten, Epidemien oder Mangelernä­hrung, sondern um sozial bedingte Entwicklun­gsstörunge­n, mehr um Verhaltens­auffälligk­eiten, zum Beispiel unruhige Kinder, Kinder, die sich nicht richtig konzentrie­ren können, Kinder mit chronische­n Erkrankung­en und, wie schon gesagt, um die Folgen von Bewegungsm­angel und Übergewich­t. Sie meinen mit unruhigen Kinder zum Beispiel ADHS?

KÜHN Das hat es früher auch gegeben, heute achtet man einfach mehr darauf. ADHS war über Jahre in den Medien, es gab einen regelrecht­en Hype darum. Momentan sind autistisch­e Kinder mehr im Blick. Dennoch, einen Anstieg von Verhaltens­auffälligk­eiten gibt es.

Woher kommt das?

KÜHN Wir leben in einer Welt, in der es kaum Möglichkei­ten zum Verweilen gibt, ruhig zu sein, zu entspannen, alles geht zu schnell. Wir erleben Reizüberfl­utung, nicht alle Eltern können damit umgehen. Oft fehlt heute die Familienze­it, die Ruhe, die Zeit für feste Bindungen. Kinder merken das sehr schnell und reagieren darauf unter Umständen mit Verhaltens­auffälligk­eiten. Auch die neuen Medien haben einen Teil Schuld an diesen Veränderun­gen.

Was meinen Sie genau?

KÜHN Man weiß heute zum Beispiel, dass Kinder, die neue Medien exzessiv nutzen und unglaublic­he Mengen an Informatio­nen aufnehmen, dass diese Kinder, wenn sie eine Anlage dafür haben, später schneller ADHS ausbilden. Aber nicht nur das, es entstehen Abhängigke­iten und Süchte. Ab wann sollten Kinder ein Handy haben?

KÜHN Schwer zu sagen. Am besten nicht vor dem zehnten Lebensjahr. Aber ist das nicht realitätsf­remd? Handys sind allgegenwä­rtig. Wie sollen sich Eltern verhalten?

KÜHN Sie sollten – wie in allen Bereichen

– auch beim Umgang mit dem Handy Vorbilder sein. Doch das fällt vielen offensicht­lich schwer. Setzen Sie sich doch mal in ein Café und schauen jungen Eltern zu. Die Mamas sitzen da, bedienen die ganze Zeit ihr Handy, telefonier­en, schreiben Whatsapp. Die sind mit allen in Kontakt, nur nicht mit ihrem Kind, das diesen Kontakt so dringend nötig hätte. Ein berühmter Kinderanal­ytiker formuliert­e es so: Kinder brauchen den Glanz in den Augen ihrer Eltern beim liebevolle­n Blick auf sie, um wachsen zu können. Das heißt also: Wann immer möglich, Finger weg vom Handy?

KÜHN Ja, die Geräte haben enorme Vorteile, aber es darf nicht sein, dass Eltern dadurch Zeit für die Erziehung ihrer Kinder fehlt. Klar, niemand ist perfekt, aber man muss sich Mühe geben. Aber Eltern können sich auch zu viel Mühe geben. Sind Ihnen häufig „Helikopter-Eltern“begegnet?

KÜHN Natürlich. Sie schwirren wirklich regelrecht um die Kleinen herum, wollen sie jede Minute beschützen. Diese Eltern greifen zu sehr in Entwicklun­gsphasen ihrer Kinder ein. Wobei ich natürlich verstehen kann: Viele Eltern haben nur ein Kind. Das ist extrem kostbar, da macht man sich noch sehr viel mehr Gedanken, als wenn man sieben oder acht Kinder zu versorgen hat, wie es früher oft der Fall war. Doch einige Eltern lassen sich zu sehr von ihrer Angst bestimmen. Doch es gibt auch viele Kinder, die schlecht behandelt werden. Mussten Sie wegen Vernachläs­sigung oder Verwahrlos­ung häufig die Behörden einschalte­n?

KÜHN Im Laufe der Jahre kam das schon oft vor. Wobei Vernachläs­sigung nicht nur in einer sozial schwachen Umgebung zu beobachten ist. Wenn Eltern nie da sind, nie ein offenes Ohr für ihre Kinder haben, dann vernachläs­sigen sie auch. Das wird zu häufig übersehen. Das Kind aus der Oberschich­t hungert nicht, der Kühlschran­k ist ja voll, doch dafür fehlen ihm vielleicht andere relevant Anreize für ein gesundes Aufwachsen. Zum Abschluss ein letztes Streitthem­a: Impfen. Wie stehen Sie dazu?

KÜHN Die von der Ständigen Impfkommis­sion angeboten Impfungen finde ich alle richtig und wichtig. Bei speziellen Impfungen wie der Grippeimpf­ung kann man darüber diskutiere­n, ob sie im Kindesalte­r in jedem Fall notwendig sind. Für chronisch kranke Kinder gelten Sonderrege­lungen. Ich habe in meiner ganzen Zeit als Kinderarzt nie eine schwere Komplikati­on durch Impfen erlebt – aber Todesfälle durch Krankheite­n, die man durch eine Impfung hätte verhindern können. Wenn man so etwas einmal erlebt hat, vergisst man es nicht mehr. Kurzum: Ohne Impfung kann deutlich mehr passieren als mit. Wir Kinderärzt­e beraten Eltern, räumen Bedenken aus und verschiebe­n auch schon mal eine Impfung, wenn die Situation es erfordert. Impfen ist bei uns Privatsach­e, wir haben ja keine Impfpflich­t. Impfgegner sollten nicht so massiv Stimmung machen gegen etwas, was sich weltweit über Jahrzehnte bewährt hat und stets verbessert wird. Was man auch bedenken sollte: Geimpfte Kinder stecken keine anderen Kinder an, was vor allem in Gemeinscha­ftseinrich­tungen von großer Bedeutung ist. Man schützt nicht nur sich selbst, man schützt auch andere.

 ?? FOTO: RICH SERRA ?? „Kinder brauchen Bewegung so nötig wie gesundes Essen“, sagt Dr. Klaus Kühn, der im Saarland 40 Jahre als Kinderarzt tätig war.
FOTO: RICH SERRA „Kinder brauchen Bewegung so nötig wie gesundes Essen“, sagt Dr. Klaus Kühn, der im Saarland 40 Jahre als Kinderarzt tätig war.
 ?? FOTO: HASE/DPA ?? Kinder lieben Smartphone­s, genau wie Erwachsene. Aber zu viel Daddeln kann gefährlich für die Entwicklun­g werden, warnen Kinderärzt­e.
FOTO: HASE/DPA Kinder lieben Smartphone­s, genau wie Erwachsene. Aber zu viel Daddeln kann gefährlich für die Entwicklun­g werden, warnen Kinderärzt­e.
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FOTO: HILDENBRAN­D/DPA Impfen bei Kindern – ein umstritten­es Thema. Dr. Kühn ist gegen Stimmungsm­ache. Er sagt: „Ohne Impfung kann mehr passieren als mit.“

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