Verliert Venezuela sein Parlament?
In Venezuela stehen die Zeichen auf Ausschaltung der Opposition. Es kommt zu absonderlichen Szenen rund um eine Wahl, die keine ist.
Nachdem der venezolanische Präsident Nicolás Maduro sich am Sonntag zum Sieger der umstrittenen Wahl über die Verfassungsreform erklärt hat, droht dem Land eine Zukunft ohne Parlament.
(dpa) Die Szene passt zur unglückseligen Wahl: Der venezolanische Präsident Nicolás Maduro will vor aller Welt zeigen, wie gut das Wahlsystem funktioniert, und seinen Ausweis scannen lassen. Das wird live im Fernsehen übertragen. Doch nach einigen Sekunden erscheint auf der digitalen Anzeige: „Diese Person existiert nicht oder der Ausweis wurde annulliert.“Maduro schaut ziemlich betreten drein.
Was bald in Venezuela auch nicht mehr existieren könnte, ist das Parlament. Die Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative. Es ist eine dieser Absurditäten, dass das aus 20 Parteien bestehende Oppositionsbündnis „Mesa de la Unidad Democrática“(MUD) plötzlich die Verfassung verteidigt, die Hugo Chávez geschaffen hat, der Begründer des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“– während sein Ziehsohn und Nachfolger Maduro diese schreddern will. Es treibt ihn die pure Not. Er verspricht wirtschaftliche Besserung, wenn er durchregieren kann.
Das Bruttoinlandsprodukt ist 2016 um rund 18 Prozent eingebrochen. Die Inflation wird 2017 wohl bei über 1000 Prozent liegen. Die Kindersterblichkeit ist um 30 Prozent gestiegen. Über 100 000 Menschen sind nach Kolumbien und Brasilien geflüchtet. Zehn Fluggesellschaften haben die Flüge eingestellt, darunter Lufthansa und Alitalia. 123 Tote gibt es seit Ausbruch der Unruhen Anfang April.
Maduro macht für die Misere den gefallenen Ölpreis verantwortlich, doch das Land mit den größten Ölreserven der Welt ist dank Korruption und abenteuerlicher Misswirtschaft mindestens auf der Intensivstation.
Was soll da eine Verfassungsgebende Versammlung bezwecken, deren nun gewählte 545 Mitglieder eine neue Verfassung erarbeiten sollen? Begleitet von Attacken auf Wahllokale, erschossenen Demonstranten und einem Wahlboykott der Opposition. Maduro macht das unverhohlen klar. Mitte der Woche werden sie in die Nationalversammlung einziehen, den Sitz des Parlaments. Es könnte abgeschafft werden und die nun gewählte Versammlung dauerhaft an seine Stelle treten. Aufgestellt wurden fast nur Sympathisanten der seit 1999 regierenden Sozialisten. Zudem soll die Immunität bisheriger Abgeordneter aufgehoben werden – es droht eine Hexenjagd, führende Köpfe könnten im Gefängnis landen.
Exakt zwei Stunden vor Bekanntgabe des offiziellen Ergebnisses durch die sozialistische Chefin der Wahlbehörde, Tibisay Lucena, twitterte der Präsident des Parlaments, Julio Borges: „Der größte Wahlbetrug in unserer Geschichte. Lucena wird mehr als acht Millionen Stimmen verkünden, sie verdreifachen fast das wirkliche Resultat.“Er verwies auf interne Zahlen aus der Behörde von 2,48 Millionen Stimmen – bei 19,4 Millionen Wahlberechtigten. Das wären dann gerade mal zwölf Prozent Beteiligung gewesen, ein Desaster für Maduro. Und was verkündet Lucena dann? 8,089 Millionen, 41,53 Beteiligung trotz des Boykotts der Opposition. Maduro feiert die (angeblichen) acht Millionen.
Die USA, die Europäische Union und die meisten Länder Lateinamerikas erkennen die Wahl nicht an. Die US-Regierung verhängte gestern Finanzsanktionen gegen Maduro. Mögliche Vermögen des Präsidenten in den USA würden eingefroren und US-Bürgern alle Geschäfte mit ihm verboten, teilte das Finanzministerium in Washington gestern mit.
Das Brandgefährliche ist das Einmauern in eigenen Realitäten. Der Bürgermeister von Caracas, Jorge Rodríguez, lacht bei der Frage, ob es Tote am Wahltag gegeben habe, die Generalstaatsanwaltschaft bestätigt am Ende zehn Tote. „Das ist eine Lüge. (...) Es gab nicht einen Toten im Zusammenhang mit der Wahl“, sagt Rodríguez.
Caracas ist heute eine Stadt der Angst und Anarchie, kein Vergleich zum 6. Dezember 2015. Der MUD gewann eine satte Zwei-Drittel-Mehrheit bei der Parlamentswahl. In der Nationalversammlung wurden die Chávez-Porträts abgehängt, Maduro sollte per Referendum abgewählt werden. Doch das stoppten Gerichte. Und nun kommt es wohl zur Gegenrevolution, die noch viel mehr Tote und Flüchtlinge produzieren könnte.