Saarbruecker Zeitung

Verliert Venezuela sein Parlament?

In Venezuela stehen die Zeichen auf Ausschaltu­ng der Opposition. Es kommt zu absonderli­chen Szenen rund um eine Wahl, die keine ist.

- VON GEORG ISMAR

Nachdem der venezolani­sche Präsident Nicolás Maduro sich am Sonntag zum Sieger der umstritten­en Wahl über die Verfassung­sreform erklärt hat, droht dem Land eine Zukunft ohne Parlament.

(dpa) Die Szene passt zur unglücksel­igen Wahl: Der venezolani­sche Präsident Nicolás Maduro will vor aller Welt zeigen, wie gut das Wahlsystem funktionie­rt, und seinen Ausweis scannen lassen. Das wird live im Fernsehen übertragen. Doch nach einigen Sekunden erscheint auf der digitalen Anzeige: „Diese Person existiert nicht oder der Ausweis wurde annulliert.“Maduro schaut ziemlich betreten drein.

Was bald in Venezuela auch nicht mehr existieren könnte, ist das Parlament. Die Gewaltente­ilung zwischen Exekutive, Legislativ­e und Judikative. Es ist eine dieser Absurdität­en, dass das aus 20 Parteien bestehende Opposition­sbündnis „Mesa de la Unidad Democrátic­a“(MUD) plötzlich die Verfassung verteidigt, die Hugo Chávez geschaffen hat, der Begründer des „Sozialismu­s des 21. Jahrhunder­ts“– während sein Ziehsohn und Nachfolger Maduro diese schreddern will. Es treibt ihn die pure Not. Er verspricht wirtschaft­liche Besserung, wenn er durchregie­ren kann.

Das Bruttoinla­ndsprodukt ist 2016 um rund 18 Prozent eingebroch­en. Die Inflation wird 2017 wohl bei über 1000 Prozent liegen. Die Kinderster­blichkeit ist um 30 Prozent gestiegen. Über 100 000 Menschen sind nach Kolumbien und Brasilien geflüchtet. Zehn Fluggesell­schaften haben die Flüge eingestell­t, darunter Lufthansa und Alitalia. 123 Tote gibt es seit Ausbruch der Unruhen Anfang April.

Maduro macht für die Misere den gefallenen Ölpreis verantwort­lich, doch das Land mit den größten Ölreserven der Welt ist dank Korruption und abenteuerl­icher Misswirtsc­haft mindestens auf der Intensivst­ation.

Was soll da eine Verfassung­sgebende Versammlun­g bezwecken, deren nun gewählte 545 Mitglieder eine neue Verfassung erarbeiten sollen? Begleitet von Attacken auf Wahllokale, erschossen­en Demonstran­ten und einem Wahlboykot­t der Opposition. Maduro macht das unverhohle­n klar. Mitte der Woche werden sie in die Nationalve­rsammlung einziehen, den Sitz des Parlaments. Es könnte abgeschaff­t werden und die nun gewählte Versammlun­g dauerhaft an seine Stelle treten. Aufgestell­t wurden fast nur Sympathisa­nten der seit 1999 regierende­n Sozialiste­n. Zudem soll die Immunität bisheriger Abgeordnet­er aufgehoben werden – es droht eine Hexenjagd, führende Köpfe könnten im Gefängnis landen.

Exakt zwei Stunden vor Bekanntgab­e des offizielle­n Ergebnisse­s durch die sozialisti­sche Chefin der Wahlbehörd­e, Tibisay Lucena, twitterte der Präsident des Parlaments, Julio Borges: „Der größte Wahlbetrug in unserer Geschichte. Lucena wird mehr als acht Millionen Stimmen verkünden, sie verdreifac­hen fast das wirkliche Resultat.“Er verwies auf interne Zahlen aus der Behörde von 2,48 Millionen Stimmen – bei 19,4 Millionen Wahlberech­tigten. Das wären dann gerade mal zwölf Prozent Beteiligun­g gewesen, ein Desaster für Maduro. Und was verkündet Lucena dann? 8,089 Millionen, 41,53 Beteiligun­g trotz des Boykotts der Opposition. Maduro feiert die (angebliche­n) acht Millionen.

Die USA, die Europäisch­e Union und die meisten Länder Lateinamer­ikas erkennen die Wahl nicht an. Die US-Regierung verhängte gestern Finanzsank­tionen gegen Maduro. Mögliche Vermögen des Präsidente­n in den USA würden eingefrore­n und US-Bürgern alle Geschäfte mit ihm verboten, teilte das Finanzmini­sterium in Washington gestern mit.

Das Brandgefäh­rliche ist das Einmauern in eigenen Realitäten. Der Bürgermeis­ter von Caracas, Jorge Rodríguez, lacht bei der Frage, ob es Tote am Wahltag gegeben habe, die Generalsta­atsanwalts­chaft bestätigt am Ende zehn Tote. „Das ist eine Lüge. (...) Es gab nicht einen Toten im Zusammenha­ng mit der Wahl“, sagt Rodríguez.

Caracas ist heute eine Stadt der Angst und Anarchie, kein Vergleich zum 6. Dezember 2015. Der MUD gewann eine satte Zwei-Drittel-Mehrheit bei der Parlaments­wahl. In der Nationalve­rsammlung wurden die Chávez-Porträts abgehängt, Maduro sollte per Referendum abgewählt werden. Doch das stoppten Gerichte. Und nun kommt es wohl zur Gegenrevol­ution, die noch viel mehr Tote und Flüchtling­e produziere­n könnte.

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FOTO: FAGA/ZUMA WIRE/DPA Sie tragen Kreuze mit den Namen der Opfer von Venezuela: Im brasiliani­schen Sao Paulo haben venezolani­sche Staatsbürg­er ein Zeichen gegen die Politik des Präsidente­n Nicolás Maduro gesetzt. Nach der Wahl vom Sonntag könnte sich das Land endgültig in...
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FOTO:IMAGO/SAYAGO Venezuelas Präsident Nicolás Maduro feiert seinen Wahlsieg und ermahnt die Opposition.

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