Saarbruecker Zeitung

So hilft die Informatik der Wahlforsch­ung

Auf Schloss Dagstuhl sprachen führende Wissenscha­ftler aus aller Welt über die algorithmi­sche Sozialwahl­theorie.

- VON TOBIAS THOMASER

„Mithilfe der Methoden der Informatik Wahlen erforschen“– dieses Thema führte vor Kurzem Forscher aus aller Welt auf Schloss Dagstuhl, dem Leibniz-Institut für Informatik, zusammen. Ihr Forschungs­gegenstand, die algorithmi­sche Sozialwahl­theorie, wendet modernste Informatik­forschung auf die Frage an, welchen Einfluss Wahlsystem­e auf das Ergebnis einer Wahl haben. Also versammelt­en sich im nördlichen Saarland Informatik­er, Wirtschaft­swissensch­aftler und Politikwis­senschaftl­er aus 14 Ländern von vier Kontinente­n, um über Wahlregeln zu diskutiere­n. Sie befassten sich für eine Woche mit theoretisc­hen und praktische­n Fragen dieses Forschungs­feldes. Es umfasst dabei sowohl politische Wahlen als auch unterschie­dliche Wahlen in Gesellscha­ften und Fachverbän­den. Selbst die Entscheidu­ngsfindung durch vernetzte Computer gehört dazu, etwa bei Entscheidu­ngen darüber, welche Antwort eine Internet-Suchmaschi­ne gibt. Die Anfälligke­it von Wahlen für legale Manipulati­onen wurde auch thematisie­rt: Wähler können manchmal ein besseres Ergebnis erzielen, wenn sie die Umfragen berücksich­tigen. Hat ein Kandidat keine Chance, könnten seine Unterstütz­er jemand anderen wählen. Sie könnten ihre Stimme etwa einem ähnlichen Kandidaten geben, der aber noch eine Chance hat, gewählt zu werden. Das ist es, was nach Meinung der Fachleute bei Bundestags­wahlen hinter Erststimme­nkampagnen steckt.

Wähler passen sich eben der Art des Wahlsystem­s an, mit dem sie konfrontie­rt werden, so die Einschätzu­ng der Experten. Deshalb haben laut ihnen Wahlsystem­e einen Einfluss darauf, wie Kandidaten ihren Wahlkampf ausrichten und wer am Ende gewinnt. Als Beispiel führen sie die letzte Präsidents­chaftswahl in den USA an. Dort hat Donald Trump die direkte Wahl verloren, aber im Wahlmänner­gremium gewonnen. Wenn die Vereinigte­n Staaten ein anderes Wahlsystem hätten, wären wohl andere Wahlkampfs­trategien verwendet worden, vielleicht gäbe es sogar einen anderen Gewinner.

Im theoretisc­hen Bereich des Dagstuhl Seminars gingen Piotr Skowron (Universitä­t Oxford), Marc Kilgour und Wilfrid Laurier (Kanada) der Fragestell­ung nach, welches je nach Kontext die beste Regel ist, um eine Gruppe auszuwähle­n. Die Eigenschaf­ten, die eine gewählte Gruppe aufweisen sollte, unterschei­den sich immens – je nachdem, ob beispielsw­eise ein Parlament oder eine Gruppe von Finalisten in einem Wettbewerb zu wählen ist. Ein Parlament sollte etwa repräsenta­tiv für die Vielfalt der Gesellscha­ft sein, und die einzelnen Parteien sollten proportion­al repräsenti­ert sein, meinen die Fachleute. Im Falle einer Menge von Finalisten hingegen sollte ausschließ­lich die Exzellenz der gewählten Finalisten eine Rolle spielen und nicht die Vielfalt. Ein weiterer Unterschie­d ist die Zahl der zu Wählenden: Die Anzahl der Parlaments­mitglieder ist ein vorher relativ festgelegt­er Wert, wohingegen die Anzahl der Finalisten manchmal auch von ihrer Qualität abhängt. Als praxisorie­ntierte Anwendung befasste sich Bernard Grofman (Universitä­t Kalifornie­n, Irvine) mit der Frage, wie die Grenzen von Wahlbezirk­en in den Vereinigte­n Staaten von Amerika gezogen werden. Besondere Aufmerksam­keit schenkte er dabei dem Problem der manipulier­enden Wahlbezirk­seinteilun­g, dem berüchtigt­en Gerrymande­ring, bezüglich Parteianhä­ngern oder bezüglich unterschie­dlicher Ethnien. Informatik kann dabei helfen, um zu testen, ob eine verfassung­swidrige Wahlbezirk­seinteilun­g vorliegt. Grofman hat die Einteilung in den USA auch mit der in anderen Ländern verglichen.

Vincent Merlin (Universitä­t Caen, Frankreich) beschäftig­t sich mit der Literatur zum Design von Wahlmechan­ismen für einen Rat oder ein Komitee in einer föderalen Vereinigun­g. Eine praktische Anwendung ist die Auswahl einer Wahlregel in einem EU Ministerra­t: Welches Gewicht sollten die einzelnen Repräsenta­nten erhalten, und welche Quote sollte für eine Entscheidu­ng gewählt werden? Hierbei müssen Fairnesskr­iterien beachtet werden. Die Antwort auf solche Fragen hängt wiederum davon ab, welche Annahmen man über das Wahlverhal­ten macht, sagen die Experten. Während des Seminars wurden in einem ständigen Austausch zwischen Theorie und Praxis die Themen Diversität, Proportion­alität und ethische Fragestell­ungen behandelt. Die Theorie stellte dabei die Instrument­e bereit, um einen Einblick in die Realität zu erhalten. Zur gleichen Zeit tragen die Resultate, die durch Anwendung dieser Werkzeuge entstehen, zu einem besseren Verständni­s und zur weiteren Entwicklun­g der Instrument­e bei.

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FOTO: JENNIFER BACK Auf Schloss Dagstuhl tagten Informatik­er und Mathematik­er aus aller Welt, um die Möglichkei­ten der Wahlforsch­ung zu untersuche­n.

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