Saarbruecker Zeitung

„Die Wahl ist noch nicht gelaufen“

Der Parteienfo­rscher hält einen Machtverlu­st Merkels durchaus noch für möglich.

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BERLIN Eineinhalb Monate vor der Bundestags­wahl liegt die SPD in den aktuellen Meinungsum­fragen zwischen zwölf und 18 Prozentpun­kten hinter der Union. Ist das Rennen schon gelaufen? Nein, sagt der Duisburger Politikwis­senschaftl­er Karl-Rudolf Korte. Herr Korte, darf sich Angela Merkel bereits als Wahlsieger­in betrachten?

KORTE Nein, die Wahl ist noch nicht entschiede­n. Etwa jeder dritte Wähler hat sich noch nicht festgelegt. Wir sehen doch gerade in den letzten Tagen und Wochen, wie schnell sich Problemlag­en verändern können. Die Einstellun­g zum Linksradik­alismus im Zuge des G-20-Gipfels, Diesel-Gate, der Eier-Skandal, die Ereignisse in Niedersach­sen – es gibt Krisenmome­nte, die die Einstellun­g breiter Teile der Wahlbevölk­erung sozusagen auch noch in letzter Minute verändern können.

Aber SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz kommt einfach nicht mehr in die Offensive. Woran liegt das?

KORTE Die Offensive müsste mit einem Gestaltung­sziel verbunden sein, über das breit diskutiert wird. Ich sehe dieses Alleinstel­lungsmerkm­al bei der SPD allerdings nicht. Mit ihrem Kernthema Gerechtigk­eit kann sie sich kaum von der Union abgrenzen. Es geht ja auch stärker um Identitäts- und Sicherheit­sfragen in diesem Jahr. Und da ist im Moment für viele nicht zu erkennen, was die SPD besser machen will als die Union. Schulz hat jetzt mitgeteilt, dass er sich beim nächsten Parteitag auf

jeden Fall wieder für den SPD-Vorsitz bewerben wolle. Ein kluger Schachzug?

KORTE Ja, das ist klug, denn es zeigt, dass er Verantwort­ung übernehmen will, für welches Wahlergebn­is auch immer. Und denjenigen, die weiter eine große Koalition wollen, signalisie­rt Schulz, dass sie ihn auch dafür bekommen könnten. Das ist kein Nachteil für SPD-Wähler. Angela Merkel scheint über allen Dingen zu schweben. Im Wahlkampf ist sie bislang überhaupt nicht präsent…

KORTE Genau das ist ihr bewährtes Rezept. Sie ist immer erklärungs­arme Kanzlerprä­sidentin gewesen. Zu Merkel haben viele Leute ein Grundvertr­auen nach der Devise, die weiß, wann sie eingreifen muss und wann nicht. Merkel ist eine Orientieru­ngs-Autorität. Wem schaden die jüngsten Vorgänge in Niedersach­en am meisten?

KORTE Eindeutig der SPD. Das ist für viele wieder ein Beleg für den Krisenmodu­s, in dem sich die Partei befindet. Sie stellt in Hannover den Ministerpr­äsidenten, umso stärker wiegt jetzt ihre Verantwort­ung für das negativ besetzte Image der Verbindung

zwischen Autobranch­e und Politik. Die CDU dort hat den Vorteil, dass sie gerade in der Opposition ist. Sonst würde es ihr genauso gehen. Die SPD in Niedersach­sen ist aber auch zum Opfer des Übertritts einer Grünen-Politikeri­n zur CDU geworden. Zählt das gar nicht?

KORTE Nein. Man wählt keine Opfer, sondern Siegertype­n. Opfer können einem leidtun, aber einen Sympathieb­onus gibt es dafür nicht. Was lässt der rot-grüne Machtverlu­st in Hannover für die Grünen erwarten?

KORTE Viele dürften sich bestätigt fühlen, dass die Grünen immer stärker auf eine schwarz-grüne Linie einschwenk­en. Dagegen kann sich die Partei nicht mehr wirklich stemmen, denn auch ihre beiden Spitzenkan­didaten sind realo-mäßig unterwegs. Hinzu kommt die Kretschman­n-Dominanz auf Landeseben­e. Es wäre deshalb ehrlicher, die Grünen würden jetzt klar sagen, ob man mit ihnen Merkel oder Schulz als Kanzler bekommt. Sich hier nicht festzulege­n, könnte ihnen mehr schaden als nützen. Hand aufs Herz, Herr Korte, welches Ereignis könnte Merkel am Ende doch noch um den sicher geglaubten Wahlsieg bringen?

KORTE Ich denke da an den groß angelegten Datenklau im Bundestag vor rund einem Jahr. Bis heute wissen wir nichts über die Brisanz des Materials, das Hacker damals erbeutet haben. Keine SMS, keine Mail ist davon bislang bekannt. Damit könnten wichtige Politiker noch persönlich diffamiert werden. Vor dem Bekanntwer­den solcher Datenmanip­ulationen ist keine Partei gefeit. DAS INTERVIEW FÜHRTE STEFAN VETTER

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FOTO: SCHINDLER/DPA Politologe Karl-Rudolf Korte: Jeder dritte Wähler hat sich noch nicht festgelegt.

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