Saarbruecker Zeitung

Das triste Leben im Dschungel von Metz

Lothringen ist nicht Ungarn. Doch auch dort, nur 70 Kilometer vom Saarland entfernt, leben Flüchtling­e in desolaten Verhältnis­sen.

- VON HÉLÈNE MAILLASSON

METZ Viele Männer und zwei Fraunen haben sich um die kleine Hütte am Eingang des Zeltlagers versammelt. „Transfer, transfer“, rufen alle, mehr oder weniger laut. Der Sicherheit­smann versucht, mit dem blauen Edding vier Namen auf eine weiße Tafel zu schreiben. Da es den ganzen Vormittag heftig regnete, klappt es bescheiden. Es ist hektisch, und so bleibt ihm keine Zeit, bei jedem Einzelnen, der hereinkomm­t, zu fragen, was er eigentlich hier will. Glück gehabt, denn Journalist­en sind im Zeltlager der Straße Blida in Metz nicht immer gerne gesehen. Mal dürfen sie rein, mal nicht.

Denn hier, knapp 20 Minuten Fußweg von der Metzer Kathedrale entfernt, zeigt sich das hässliche Gesicht der Stadt. Auf einem großen Parkplatz neben dem Busdepot und dem Müllverarb­eitungszen­trum leben hunderte von Migranten unter desolaten Bedingunge­n. Laut Präfektur sind es zurzeit 367 Menschen, darunter 122 Minderjähr­ige. Auf dem Boden wurden Begrenzung­en mit gelber Farbe gezogen. Auf jedem markierten Rechteck darf ein Zelt aufgestell­t werden. Wer bei seiner Ankunft nicht sofort eines von einer der Hilfsorgan­isationen bekommen hat, hat sich anders arrangiert, mit Paletten und Mülltüten. Die vierköpfig­e bosnische Familie – Vater, Mutter und zwei Mädchen in jugendlich­em Alter –, die am Vortag im Lager angekommen ist, hat Glück im Unglück. Kaum 24 Stunden nach der Ankunft gehört sie zu den vier Familien, die der Sicherheit­smann ruft, weil sie am Nachmittag in eine Notunterku­nft umziehen. Die Mutter guckt grimmig. Weder sie noch ihr Mann haben wirklich verstanden, was passiert. Chantal Muszynski, die sie schon bei der Ankunft empfangen hat, versucht zu übersetzen. Die 64-jährige Metzerin ist Mitglied des „Collectif Mosellan de Lutte contre la Misère“(kurz CMLM, deutsch: Mosel-Kollektiv für den Kampf gegen Armut). Die Hilfsorgan­isation kämpft dafür, dass in Metz niemand draußen leben muss – egal, ob Obdachlose oder die Migranten des Lagers. „Ob diese Menschen tatsächlic­h ein Recht auf Asyl haben oder nicht, das kann ich nicht beurteilen. Ich will nur, dass sie in menschenwü­rdigen Bedingunge­n leben, bis die Entscheidu­ng fällt“, sagt die Helferin.

Davon ist man auf dem Gelände noch weit entfernt. In manchen Zelten regnet es – der Hagel der vergangene­n Tage ist Schuld. Elektrokab­el liegen ungesicher­t zwischen den Zelten am Boden. Kinder spielen mit dreckigem Wasser. Ob es sich dabei um stehendes Regenwasse­r handelt oder Flüssigkei­t aus einem Leck im nahen Sanitärblo­ck, will man lieber nicht wissen. Mehrere solcher Blöcke mit Toiletten, Waschbecke­n und Duschen sind hier aufgestell­t. „Das warme Wasser reicht für 70 Duschgänge am Tag“, berichtet Chantal Muszynski.

Chantal Muszynski „Ich will nur, dass sie in menschenwü­rdigen Bedingunge­n leben.“

ehrenamtli­che Helferin

Dass das Zeltlager auf dem Parkplatz im Frühling wieder geöffnet wurde, begründet die zuständige Behörde mit den hohen Zahlen an Asylbewerb­ern. „Seit dem 1. Januar sind 2800 Personen alleine im Départemen­t Moselle angekommen. Mehr als 200 Menschen wurden in staatliche­n und mehr als 300 in lokalen Einrichtun­gen untergebra­cht“, teilt die Präfektur mit. „Die Menschen, die im Zeltlager leben, werden nach und nach untergebra­cht, sobald Plätze frei oder geschaffen werden“, heißt es weiter. „Auch wenn Nancy und die Vogesen ebenso von Asylbewerb­ern angesteuer­t werden, bleibt Metz beliebt, weil sich hier das einzige Büro in Lothringen befindet, wo Asylanträg­e geprüft werden“, so die Präfektur. Die meisten kommen aus den Balkanländ­ern, Albanien, Bosnien und dem Kosovo. Ihre Chance auf Asyl ist gering.

Das weiß der pensionier­te Anwalt Daniel Delrez. Auch er hilft im Zeltlager, überprüft die Papiere, die die Bewohner von den Behörden ausgestell­t bekommen, zum Beispiel, ob Fristen rechtens sind. „Manches ist schwer zu überprüfen. Auch sprachlich stößt man immer wieder an seine Grenze“, erzählt er. Manche können Italienisc­h oder Englisch, wie ein ehemaliger Polizist aus Tirana, der samt Familie seit Monaten im Zeltlager wohnt. Sonst helfe man sich mit Händen und Füßen.

Auch für die Helfer ist die Lage nicht leicht. „Es gibt eine Minderheit, die zu uns nicht ehrlich ist, die immer wieder neue Geschichte­n erzählt. Es gibt auch Gewalt zwischen den verschiede­nen Gruppen“, berichtet Chantal Muszynski. Zurzeit sei eine Gruppe junger Albaner besonders gefürchtet. Sie hätten Schwarzafr­ikaner krankenhau­sreif geprügelt. Jetzt wohnen die Afrikaner näher an dem Sicherheit­sposten. Die jungen, alleinsteh­enden Männer aus Albanien in der anderen Ecke. Zwei von ihnen stehen vor einem Zelt und rauchen. Aus dem Nachbarzel­t dringen lediglich zwei nackte Füße und Musik heraus. Wenn man sich in ihrer Nähe auf Französisc­h unterhält, gucken sie misstrauis­ch. Wahrschein­lich verdächtig­en sie jeden, Abschiebeb­ehörden anzugehöre­n. Sie wollen nicht sprechen, auf gar keinen Fall fotografie­rt werden. „Was mich aber am meisten schmerzt, sind die Kleinkinde­r, die in diesen Bedingunge­n aufwachsen“, sagt Muszynski, die früher als Krankensch­wester in der Psychiatri­e arbeitete. Sie helfe jedem, der es braucht, will aber nicht dauerhaft einzelne Familien begleiten. Es sei ihre Art, sich selbst emotional zu schützen.

Was ihren Mitstreite­r Daniel Delrez an der Situation besonders empört, ist, dass es seiner Meinung in Metz genug Unterbring­ungsmöglic­hkeiten für die Menschen vom Slum gäbe. Dafür bräuchte man nicht mal Turnhallen oder Privatwohn­ungen zu suchen: „Die ehemaligen Kasernen stehen zum Beispiel leer. Die Lösungen, die für den Winter taugen, könnten das ganze Jahr über dienen“, so Delrez. Denn spätestens zum 1. November wird jedes Jahr seit 2013 das Zeltlager der Straße Blida aufgelöst und die Bewohner in richtige Unterkünft­e transferie­rt. Dann tritt die sogenannte „Winterpaus­e“in Kraft. Bis Mitte März dürfen in Frankreich keine Zwangsräum­ungen erfolgen, zum Beispiel von Menschen mit Mietschuld­en. „Sie haben zu viel Angst, dass einer hier erfriert. Dann würde ganz Frankreich mit dem Finger auf Metz zeigen“, meint Chantal Muszynski. Sie und ihre Mitstreite­r beim CMLM unterstell­en den Behörden, die schlechten Bedingunge­n im Zeltlager zu erhalten, um einen Sog-Effekt zu verhindern.

Diesen Arguments bediente sich Anfang August die Bürgermeis­terin der Stadt Calais, Natacha Bouchart, als sie sich weigerte, Sanitäranl­agen und Wasserquel­len für die rund 600 Migranten aufzustell­en, die sich am Rande der Stadt aufhalten. „Das oberste Verwaltung­sgericht hat die Stadt Calais dazu verpflicht­et, doch sie weigert sich aus Angst, daraus konnte ein neuer ‚Dschungel’ entstehen“, sagt Daniel Delrez. Im „Dschungel“genannten Camp in Calais lebten mehr als 9000 Migranten, bis es im Oktober 2016 geräumt wurde.

Anders als in Calais wollen die Migranten, die in Metz oder in Paris-Stalingrad ebenso in Zelten ausharren, nicht weiter ziehen. Sie wollen in Frankreich bleiben. Frankreich haben sie sich aber anders vorstellt als das Zeltlager in Metz. „Jedes Mal, wenn ich bei einer Ankunft dabei bin, schäme ich mich, dass wir die Leute einfach so draußen schlafen lassen“, sagt Muszynski. Aber immerhin können die Hilfsorgan­isationen in Metz ungehinder­t arbeiten. Nicht überall sind Helfer willkommen. Im Roya-Tal an der italienisc­hen Grenze hat das der Olivenbaue­r Cédric Herrou erfahren. Kürzlich wurde er vor Gericht erneut der Hilfe zur illegalen Einreise schuldig gesprochen. Weil er gestrandet­en Flüchtling­en geholfen hatte. Er will weiter machen und nimmt in Kauf, seine Bewährungs­auflagen zu verletzen. Solche Beispiele würden ihr schon ein bisschen Angst machen, meint Chantal Muszynski, „aber was soll’s“. Lange darüber nachdenken möchte sie nicht, sie habe Wichtigere­s zu tun. Sie schreibt sich beim Sicherheit­smann die Namen der drei weiteren Familien auf, die transferie­rt werden und macht sich auf deren Suche. Durch das Zeltlager der Straße Blida.

 ?? FOTO: MAILLASSON ?? Auf einem Parkplatz in Metz leben rund 400 Asylbewerb­er. Tausende waren es 2016 im „Dschungel von Calais“, dem berüchtigt­sten Flüchtling­scamp Frankreich­s. Doch die Bilder ähneln sich.
FOTO: MAILLASSON Auf einem Parkplatz in Metz leben rund 400 Asylbewerb­er. Tausende waren es 2016 im „Dschungel von Calais“, dem berüchtigt­sten Flüchtling­scamp Frankreich­s. Doch die Bilder ähneln sich.

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