Zurück in die Blütezeit der Hanse
In Lübeck, dem einstigen Tor zum Ostseehandel, wandeln Besucher auf den Spuren einer globalen Macht im Mittelalter.
(dpa) Heringe aus der Ostund Nordsee, Salz aus Lüneburg, Pelze aus Russland, Getreide aus dem Baltikum und Dorsch aus Norwegen: Mit diesen Waren dominierten die Lübecker Kaufleute vom 12. bis zum 17. Jahrhundert den Handel in Europa. Wohl nirgendwo sonst in Deutschland lässt sich noch heute so authentisch in die Hansezeit eintauchen. In diesem Jahr lohnt sich ein Besuch der Stadt besonders. Lübeck feiert 30 Jahre Unesco-Weltkulturerbe.
Die Zahl 30 ist in diesem Sommer allgegenwärtig in Lübeck. In der Breiten Straße bieten Geschäfte 30 Prozent Rabatt, auf der Trave gewährt eine Schifffahrtsgesellschaft 30 Freitickets für Rundfahrten. Die St. Marien Kirche lockt mit kostenfreien Führungen für 30 Personen, und 30-Jährige haben freien Eintritt in die städtischen Museen. Mit dem Motto „Plötzlich 30!" wirbt Lübeck für das Wiederentdecken seiner Geschichte. Die Auszeichnung der Lübecker Altstadt verdankte die Ostseemetropole 1987 ihrer Geschichte als „Königin der Hanse“.
Ein guter Ort, um sich mit der Historie der Stadt zu beschäftigen, ist das vor zwei Jahren eröffnete Europäische Hansemuseum am nördlichsten Zipfel der Altstadt. Streift man durch die unterschiedlichen Themenräume des Gebäudes, so begegnet man Reisenden, die neben Deutsch auch Dänisch, Russisch oder Englisch reden. Ein Gast aus Norwegen zeigt sich begeistert: „Ein tolles Museum, in dem unsere gemeinsame Geschichte erlebbar ist.“Die Themenräume versetzen einen in die Zeit der Handelsniederlassungen in London, Brügge und Bergen. Besucher erfahren zum Beispiel, wie Kaufleute und Seefahrer dem Adel, Seeräubern, der Pest und den Naturgewalten trotzten.
Nach dem Museumsbesuch lässt sich Lübeck mit geschärften Sinnen erkunden. Eine Übersicht von oben bietet die Aussichtsplattform der mehr als 800 Jahre alten St. Petri Kirche. Schachbrettartig im 12. Jahrhundert angelegt, laden die Gassen und Straßen Lübecks mit insgesamt 1800 denkmalgeschützten Gebäuden zur Erkundung ein.
Das Holstentor von 1478 ist das Wahrzeichen Lübecks. Die imposanten Salzspeicher gleich neben dem Holstentor lassen erahnen, wie geschäftig es zur Hansezeit auf der Obertrave zuging. Hunderte Schiffe warteten hier täglich auf ihre Ent- und Beladung. Salz, Holz und Tuche mussten zwischengelagert werden. Das lockte Arbeitskräfte an. Vom 12. bis ins 16. Jahrhundert boomte die Stadt. „Mit der Entwicklung des Handels wuchs die Nachfrage nach Seeleuten, Tagelöhnern und Handwerkern“, erklärt Gästeführer Jan Kruijswijk. Lübeck wurde zur zweitgrößten Stadt Deutschlands.
Die Geschichte hat Spuren hinterlassen, die vor allem in der Architektur spürbar sind. An den Gebäuden erkennt man: In Lübeck traf einst ländliche Idylle auf urbanes Treiben. Weil es an Bauland mangelte, wurden in der Innenstadt kleine Häuser und Katen in den Hinterhöfen errichtet. Heute sind diese Gassen und Höfe mit ihren Gaslaternen Oasen der Ruhe.
Dem Prunk und Luxus, in dem die Kaufleute lebten, begegnen Touristen heute in der Kunsthalle St. Annen: Stilvolles, mit Intarsien verziertes Mobiliar, feinstes Tafelgeschirr, kostbare Gewänder und Schmuck. Der Reichtum der Stadt lockte auch Künstler aus Flandern, Italien und Frankreich, deren Gemälde und Kirchenaltäre Besucher im Museum bestaunen können.
Das markanteste Monument ihres Strebens nach Reichtum und Macht hinterließen die Hanseaten im Zentrum Lübecks. Hier errichteten sie ihr prunkvolles Rathaus und die benachbarte Marienkirche, die selbst den Dom des Bischofs überragt. Wie Könige ließen sich die Ratsherren porträtieren, wie Heilige tauchen sie auf religiösen Kunstwerken auf. Die Demut kehrte mit der Pest zurück, die ein Drittel der Kaufmänner auslöschte.
Der letzte Hansetag in Lübeck fand 1669 statt. Nach der Entdeckung Amerikas und der Erschließung neuer Seewege nach Asien gewann der Überseehandel zunehmend an Bedeutung. Selbst die altehrwürdige Lübecker Schiffergesellschaft in der Breiten Straße musste ihre Räume an eine Gastwirtschaft verpachten. Für Touristen eine glückliche Fügung: Sie können seitdem die köstlichen Hering-, Dorsch- und Flundergerichte in Hanse-Ambiente genießen.