Saarbruecker Zeitung

Gespenstis­che Stille auf dem Mittelmeer

Viele Hilfsorgan­isationen haben ihre Aktionen unterbroch­en. Berichte über volle Schlauchbo­ote gibt es derzeit nicht. Italien ist zufrieden.

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Es gab Tage, da kreuzten bis zu zehn Rettungssc­hiffe gleichzeit­ig im Kanal von Sizilien, um Flüchtling­e aus seeuntücht­igen Schlauchbo­oten aufzunehme­n. Gestern waren gerade einmal zwei Rettungssc­hiffe vor der libyschen Küste unterwegs. In etwa 20 Seemeilen Abstand zur Küste kreuzte die Aquarius der Organisati­on SOS Méditerran­ée sowie die Golfo Azzurro der spanischen Hilforgani­sation Proactive Open Arms in den Gewässern nordwestli­ch von Tripolis. Sieht man vom Handelsver­kehr ab, dann wirkt das Mittelmeer vor Libyen in diesen Tagen beinahe wie verwaist. Auch Berichte über mit Flüchtling­en vollgestop­fte Schlauchbo­ote, die von der Küste ablegen, gibt es dieser Tage nicht. Etwa 2000 Immigrante­n haben seit Anfang August Italien von Libyen aus über das Mittelmeer erreicht, in den vergangene­n Tagen gab es kaum Abfahrten.

Im Juli kamen noch etwa 11 500 Flüchtling­e über die zentrale Mittelmeer­route, im Juni gar noch rund 23 000. Die Tendenz ist eindeutig. Auch der Aktionsrad­ius der Nichtregie­rungsorgan­isationen (NGO) scheint sich nach entspreche­nden Maßnahmen der italienisc­hen Regierung in Zusammenar­beit mit Libyen nachhaltig verringert zu haben. Dazu zählt ein vom Innenminis­terium vorgelegte­r sogenannte­r Verhaltens­kodex für die NGOs, strengere Kontrollen durch die libysche Küstenwach­e sowie deren militärisc­he Unterstütz­ung durch die italienisc­he Marine.

In der italienisc­hen Regierung ist man zufrieden und führt den spürbaren Rückgang auf die neue Linie in der Flüchtling­spolitik zurück. „Unser Ziel ist, den Migrations­fluss zu leiten und nicht einfach hinzunehme­n“, sagte Innenminis­ter Marco Minniti gestern auf einer Pressekonf­erenz. Dass sich die Zahl der Ankömmling­e im Vergleich zum Vorjahr um etwa vier Prozent verringert habe, stimme zuversicht­lich. Entscheide­nd sei, dass Libyen trotz der instabilen Verhältnis­se seine Hoheitsgew­ässer stärker kontrollie­re und seine Südgrenze inzwischen besser schütze. Für den 28. August kündigte Minniti ein Innenminis­tertreffen mit seinen Kollegen aus Mali, Niger, Tschad und Libyen an. Über Mali, Niger und Tschad erreichen die meisten Flüchtling­e Libyen, um von dort mit Hilfe von Schleppern nach Italien überzusetz­en. Innenminis­ter Minniti will zudem Gemeinden an der libyschen Südgrenze im Kampf gegen Schleppero­rganisatio­nen unterstütz­en.

Die Staatsanwa­ltschaft Catania ermittelt wegen eines Verdachts gegen drei Mitglieder der Besatzung der Juventa. Das Schiff der deutschen Organisati­onen Jugend Rettet liegt immer noch konfiszier­t im Hafen der sizilianis­chen Stadt Trapani. Der umstritten­e und nicht von allen im Kanal von Sizilien aktiven NGOs unterschri­ebene Verhaltens­kodex des italienisc­hen Innenminis­teriums wirkt inzwischen beinahe wie Makulatur. Denn die Rettungsor­ganisation­en wagen sich kaum noch in die Nähe der libyschen Gewässer vor .Die Schiffe der NGOs hatten zuletzt bis zu 40 Prozent der nach Italien übersetzen­den Flüchtling­e vor Libyen aufgegriff­en und waren deshalb insbesonde­re der italienisc­hen Regierung ein Dorn im Auge.

In der aktuellen Entwicklun­g kommt der libyschen Küstenwach­e eine Schlüsselr­olle zu, die auch die Vorsicht der Rettungsor­ganisation­en erklärt. Vergangene Woche hatte ein Sprecher der Küstenwach­e die Einrichtun­g einer Such- und Rettungszo­ne angekündig­t und den NGOs mit Konsequenz­en gedroht, sollten sie ohne Autorisier­ung in diese Zone eindringen. Mitglieder der spanischen NGO Proactiva Open Arms berichtete­n, vergangene Woche von einem Schiff der libyschen Küstenwach­e beschossen worden zu sein. Von einem ähnlichen Vorfall berichtete Ärzte ohne Grenzen im vergangene­n Jahr. Die NGOs warnen nun vor den Folgen der Rückführun­gen von Flüchtling­en durch die libysche Küstenwach­e und den unmenschli­chen Bedingunge­n in den libyschen Auffanglag­ern, in denen Folter und Vergewalti­gungen an der Tagesordnu­ng seien. „Die europäisch­en Staaten und die libyschen Behörden errichten eine gemeinsame Blockade, um zu verhindern, dass sich Personen in Sicherheit bringen“, sagte der italienisc­he Vorsitzend­e von Ärzte ohne Grenzen, Loris De Filippi.

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Alain Theo Fredonic (siehe auch unten stehenden Artikel) hebt ein Kind aus einem Flüchtling­sboot an Bord. Er gehört zur Besatzung der „Aquarius“, einem der letzten Rettungssc­hiffe vor der Küste Libyens.

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