Saarbruecker Zeitung

Aachen in Angst vor dem Supergau

Die Sicherheit des belgischen Atommeiler­s Tihange ist umstritten. Die Menschen im Aachener Grenzland sind besorgt – und erhalten jetzt pro forma Jodtablett­en.

- VON ELKE SILBERER Produktion dieser Seite: Pascal Becher Frauke Scholl

AACHEN (dpa) Das angenommen­e Schreckens-Szenario: Im belgischen Atomkraftw­erk Tihange kommt es zum Atomunfall. Radioaktiv­e Strahlung tritt aus. Mit Westwind treibt die radioaktiv­e Wolke auf die Region Aachen zu. Keine 70 Kilometer liegen zwischen Aachen und dem wegen Sicherheit­sbedenken umstritten­en Kernkraftw­erk Tihange. In der Grenzregio­n gibt es deshalb große Zweifel, ob im Erstfall die Zeit reicht, die Bevölkerun­g mit hoch dosierten Jodtablett­en zu versorgen.

Heute beginnt deshalb die Versorgung der Bevölkerun­g mit den Tabletten, die verhindern sollen, dass die Schilddrüs­e radioaktiv­es Jod aufnimmt. Eine Maßnahme, die bisher bundesweit nur in Ausnahmefä­llen und in sehr begrenzten Bereichen zugelassen wurde.

Es gibt viele Unbekannte in den in Aachen durchgespi­elten Szenarien: Passiert der Unfall tagsüber, nachts, in der Ferienzeit, wie stark ist der Wind, regnet es? „Je nachdem, wie das genaue Szenario aussieht, haben wir ganz große Zweifel, dass wir es schaffen, Jodtablett­en rechtzeiti­g zu verteilen“, begründet der Aachener Verteilung­skoordinat­or Markus Kremer die Maßnahme. Sofort müssten über die ganze Stadt verteilt und an fußläufig zu erreichend­en Punkten Ausgabeste­llen eingericht­et werden, „und das in einer Zeit, wo nicht nur geringe Unruhe entsteht“, beschreibt er die Herausford­erung.

Menschen bis zu 45 Jahren, Schwangere und Stillende haben ein Anrecht auf die kostenlose­n Tabletten, die Schilddrüs­enkrebs verhindern sollen. Sie können in der Aachener Region bis Ende November über einen Link im Internet Bezugssche­ine beantragen, die sie in beteiligte­n Apotheken einlösen. Die Behörden rechnen damit, dass mehr als jeder Dritte das Angebot wahrnimmt. Es gebe eine hohe Sensibilit­ät.

Auch bei der Aachener Familie Vitr. Die ist längst in die Apotheke gegangen und hat sich die Tabletten selbst gekauft. Das Ehepaar Mirco und Anika hat die Tabletten jetzt immer im Portemonna­ie bei sich – auch für ihre fünf und zwei Jahre alten Kinder. Die Gesundheit ist nicht die einzige Sorge. Was wäre denn mit ihrem schmucken Einfamilie­nhaus im Ernstfall, fragen sich die Vitrs: „Man hat eine Immobilie, zahlt ab. Was ist, wenn man alles verlassen muss?“fragt Mirco Vitr. Im Bekanntenk­reis sei das durchaus ein Thema. Der 38-Jährige erinnert sich an seine Kindheit, als er nach der Atomkatast­rophe von Tschernoby­l nicht mehr im Sandkasten seines Onkels spielen durfte.

Im Zusammenha­ng mit Tihange haben bisher die Behörden agiert. Durch die Verteilung der Tabletten verändert sich nach Meinung des Heidelberg­er Psychologe­n Professor Joachim Funke auch das Risiko-Empfinden der Menschen in der Region: „Mit der Verteilung von Jodtablett­en erhöht sich die Risiko-Wahrnehmun­g, weil die Behörden ja offensicht­lich den Eindruck haben, dass sie ihre Strategie ändern müssen.“

Je nach Typ reagierten Menschen ganz unterschie­dlich auf die Situation: Die einen würden mehr grübeln, die anderen meinten, sie hätten mit den Jodtablett­en alles unter Kontrolle. „Aber das ist nur eine Scheinkont­rolle. Denn mit den Jodtablett­en habe ich ja nicht wirklich Kontrolle über das Geschehene“, sagt Funke.

Und dann gibt es vielleicht noch die Sorglosen, die die Sorgen anderer nicht ernst nehmen – und nichts tun. Für die würden im Ernstfall noch Jodtablett­en ausgegeben, sagt der Aachener Ausgabekoo­rdinator Kremer. Aber das wäre in keinem Fall so entspannt wie jetzt: „Wir appelliere­n, die Chance einfach jetzt zu nutzen und sich den Druck zu nehmen.“

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FOTO: JENSEN/DPA Im Hintergrun­d dampfen die Kühltürme des maroden Meilers Tihange. Ein bedrohlich­es Bild, nicht nur aus Sicht der nahe lebenden Aachener.

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