„Harvey“ist fort und hinterlässt einen Alptraum
In der US-Metropole Houston ist seit dem Hurrikan-Horror nichts mehr, wie es war. Die Bewohner hadern – nicht nur mit dem Schicksal.
HOUSTON Früher schlängelte sich die Mason Road durch gepflegtes VorortMilieu mit akkurat gemähten Rasenflächen. Heute führt sie durch eine Landschaft, die Benny Pastora einen apokalyptischen Alptraum nennt. Ein furchtbarer Gestank liegt über dem Viertel, scheinbar sinnlos ragen Stoppschilder aus dem Wasser, vereinzelt auch Autodächer. Es ist der Tag fünf nach der großen Flut, nach dem Horror-Sonntag, an dem der Tropensturm „Harvey“einen Regen nach Houston brachte, wie ihn noch keine amerikanische Stadt erlebt hat.
Während das Wasser in den meisten Vierteln der Stadt so weit gesunken ist, dass auf den Straßen der Verkehr wieder rollt, ist an der Mason Road in der Einfamilienhaussiedlung Cinco Ranch, rund 40 Kilometer westlich der City, kein Ende des Elends in Sicht. Noch nie musste das Rückhaltebecken nahe der Straße in so kurzer Zeit so viel Wasser auffangen. Um es nach und nach ablaufen zu lassen, werden Schleusen geöffnet. Dennoch bleibt die Gefahr, dass die altersschwachen Deiche dem noch immer enorm hohen Druck der Wassermassen nicht standhalten. Drei Wochen, hat Pastora von seinem Sheriff gehört, wird es wohl dauern, bis man wieder durch Cinco Ranch laufen kann, ohne bis zu den Hüften in brauner Brühe zu versinken. Der Mathematiker hält den Zeitplan für viel zu optimistisch. „Drei Wochen oder drei Monate, wer weiß das heute schon so genau.“
Cinco Ranch ist untergegangen in einer Kloake. Die Kanalisation hat offenbar Schaden genommen, Exkremente schwimmen im Wasser. Bis Sonntag wohnte Benny Pastora in dem Viertel, Dozent einer Universität, verheiratet mit Helen, einer Violinistin. 1995, damals brauchten sie Platz für ihre fünf Kinder, kauften sie ein geräumiges Haus in Cinco Ranch. Houston wuchs und wuchs, Siedlungen mit monotoner Architektur entstanden im Umland, auch neben dem Auffangbecken im Westen. Als das Reservoir in den 1930er Jahren angelegt wurde, soll die Army davor gewarnt haben, in seinem Umkreis Häuser zu bauen. Nach „Harvey“scheinen sich alle wieder daran zu erinnern. Zuvor war es vergessen.
Was Pastora ganz sicher weiß, ist, dass er von vorn anfangen muss. Schimmlige Gipswände herausreißen, neue Elektrogeräte kaufen, die Möbel im Parterre ersetzen. Aber zunächst geht es darum, Pinto und Taira zu retten, die beiden Katzen. Troy E. Nehls, der Sheriff, hat den Bewohnern der versunkenen Siedlung per Facebook angeboten, dass sie sich am trockenen Ende der Mason Road einfinden können, um ihre zurückgelassenen Haustiere zu bergen. Für den Sheriff, ein drahtiger Mann mit Cowboy-Hut, ist die Maßnahme ebenso wichtig wie anderes nach der Flut. „Es gibt so viele Kinder, die Alpträume haben nach allem, was sie durchmachen mussten. Wenn ich denen wenigstens etwas zurückgeben kann, was sie beruhigt, hat sich die Sache gelohnt.“
Am entgegengesetzten Ende der Stadt im Vorort Crosby lebt Dan Harris auf seiner Ranch. Die Fluten sind bei ihm nicht angekommen, aber die Ranch liegt nur knapp außerhalb der Sperrzone um das überflutete Chemiewerk, das nach „Harvey“explodierte. Die geradezu biblischen Regenfälle sieht Harris als einen Ausnahmefall. „Bist du Demokrat, dann ist die globale Erwärmung an allem schuld. Bist du Republikaner, glaubst du daran, dass die Erde natürliche Zyklen durchläuft“, sagt er zum Thema Klimawandel. Ein Hurrikan sei ein Hurrikan. „Was willst du dagegen machen?“
Bei weitem nicht jeder in Houston sieht das so. Es gebe nun mal diesen unsichtbaren Elefanten im Raum, auch wenn mancher nicht über ihn reden wolle, schreibt Vernon Loeb, der Chefredakteur des „Houston Chronicle“. Der Elefant ist die globale Erwärmung. Immer häufiger auftretende extreme Wettereignisse seien die logische Folge. Ob „Harvey“einen Wendepunkt der amerikanischen Klimadebatte markiert, sogar in Texas? Nein, sagen Experten. In Houston, das seinen Wohlstand Öl und Gas verdankt, habe ökologische Weitsicht auch nach „Harvey“einen schweren Stand.
Unterdessen hadert Sherry Roberts im NRG Center, einer zur Notunterkunft umfunktionierten Messehalle, noch immer mit den lokalen Behörden, die aus ihrer Sicht den Ernst der Lage zu „Harvey“lange nicht begriffen. Roberts machte sich schon vor Sonntag Sorgen, weil der Sturm nahte und es keine Infos über Notunterkünfte gab. Sie rief die Stadtverwaltung an und bekam zur Antwort, dass sie zu Gott beten solle, falls es schlimm komme. „Ich bin zwar gläubig, aber das war nicht die Antwort, die ich hören wollte.“
Die US-Regierung hat nun Aufbauhilfe angekündigt: Berichten vom Freitagabend zufolge fordert Trump vom Kongress 5,9 Milliarden Dollar für die Flutopfer.