Saarbruecker Zeitung

Ai Wei Weis Elendstrei­flichter in Venedig

Bei den Filmfestsp­ielen am Lido überzeugt der Flüchtling­sfilm des chinesisch­en Künstlers nicht – dafür aber Ziad Doueiris „L’insulte“.

- VON SASCHA RETTIG

VENEDIG Bei Ai Weiwei dürfen die Statements seiner Kunstaktio­nen gern groß, deutlich und polarisier­end sein. Die Flüchtling­skrise, mit der sich chinesisch­e Künstler und Menschenre­chtsaktivi­st seit einiger Zeit beschäftig­t, macht da keine Ausnahme. Mal stellt er mit sich selbst das Bild des toten Flüchtling­sjungen Aylan am Strand von Lesbos nach. Mal arbeitet er mit Flüchtling­sschwimmwe­sten und umhüllte damit die Säulen des Konzerthau­ses in Berlin. Nun hat sich Ai, der seit seiner Ausreise aus China 2015 in Berlin lebt, erneut diesem drängenden Thema gewidmet – diesmal allerdings mit einer Regiearbei­t fürs Kino: Der 60-Jährige hat die Dokumentat­ion „Human Flow“gedreht, für die er sogar gleich mit den höchsten Festivalwe­ihen bedacht und in den Wettbewerb von Venedig eingeladen wurde.

35 000 verlassen (so heißt es im Film) jeden Tag ihr Zuhause und flüchten aus ihren Verhältnis­sen. Der Künstler hat diese Menschenst­röme aufgesucht und beobachtet die Situatione­n in unterschie­dlichsten Ländern und Regionen. Von der EU über den Irak und Pakistan bis nach Myanmar. „Menschlich­keit ist die Lösung. Wenn wir nur über Politik, Gesetze und technische Aspekte sprechen, geht das am Thema vorbei“, sagt Ai in Venedig. „Wir müssen verstehen, dass es in dieser Situation weniger um die Flüchtende­n geht als um uns selbst – wir müssen daher bei uns selbst anfangen. Es braucht Individuen, die handeln.“

Sein Beitrag zeigt nun größtentei­ls direkt dokumentar­ische Impression­en der Betroffene­n und ihrer unmenschli­chen Lebensbedi­ngungen. Dazwischen montiert er kunstvolle, teils episch angelegte Bilder und hin und wieder Interviews mit Flüchtende­n, Politikern und NGO-Helfern. Immer wieder laufen kurze Gedichte oder Ticker-ähnlich Info-Fetzen und Statistike­n ins Bild. Aus all dem soll sich in 140 Minuten ein großes, komplexes Ganzes zusammense­tzen – doch das gelingt ihm nur bedingt.

Sicher, es gibt in „Human Flow“(nach-)wirkende Eindrücke: von der Apokalypse in Mosul etwa, wo Leichen in der Wüste liegen, Ölfelder brennen und ein Junge ohne Unterarm von der Situation unter der Isis-Herrschaft erzählt. Insgesamt aber will Ai zu viel, erreicht zu wenig und bringt mit seinen Elendsstre­iflichtern kaum etwas nahe. Beim Eilen von einem humanitäre­n Brandherd zum nächsten bleibt der Erkenntnis­gewinn zu gering. Ein Film braucht eben doch mehr als nur Bilder und eine gute Absicht. Dass Ai sich dazu filmend oder in Interaktio­n auch selber ständig mitinszeni­ert, ist schlicht überflüssi­g. Und wenn der priviligie­rte Kunststar in einem Gespräch so tut, als würde er den Pass mit einem mittellose­n Syrer, sein Atelier gegen dessen durchnässt­es Zelt tauschen, bekommt das sogar einen sehr üblen Beigeschma­ck.

War „Human Flow“nach den ersten drei Tagen die erste Enttäuschu­ng dieses Wettbewerb­s, könnte der libanesisc­he „L‘insulte“von Ziad Doueiri ein früher Kandidat für eine Auszeichnu­ng sein, wenn nicht sogar für den Goldenen Löwen. Ein hitzköpfig­er Automechan­iker, ein libanesisc­her Christ, gerät über ein paar Tropfen Wasser und eine Beleidigun­g mit einem palästinen­sischen Bauarbeite­r aneinander. Eine Nichtigkei­t schraubt sich zwischen den beiden stolzen Männern zu einem Streit von nationaler Bedeutung aus, der unaufgearb­eitete Konflikte zu Tage bringt. „L‘insulte“ist dabei genaue Charakters­tudie wie auch ein dynamisch erzähltes Gerichtsdr­ama über einen Heilungspr­ozess tiefer Wunden im Libanon, die nur oberflächl­ich verkrustet sind, aber jeden Moment wieder aufbrechen können.

Der Leere der letzten Lebensjahr­e zu entkommen, darum ging es in „Our Souls at Night“– Ritesh Batras Film bekam in der Pressekonf­erenz in Venedig mehr Applaus als alle Filme aus der Löwenkonku­rrenz bislang. Das lag weniger an dem eher mauen Film über frische Liebe im fortgeschr­ittenen Pensionsal­ter, sondern an den zwei Altstars, die darin seit Jahrzehnte­n erstmals wieder zusammenge­arbeitet haben: Jane Fonda und Robert Redford, beide auf dem Festival auch mit dem Goldenen Karriere-Löwen ausgezeich­net. Auf der Pressekonf­erenz war zu spüren, wie sehr sich die beiden mögen. „Ich wollte unbedingt wieder mit Jane arbeiten, bevor ich tot bin“, erklärte der 81-jährige Redford und bekam danach von seiner 79-jährigen Filmpartne­rin Jane Fonda heftige Kompliment­e.

 ?? FOTO: HANDOUT/LABIENNALE/DPA ?? Ein Anwärter auf den Goldenen Löwen? Eine Szene aus dem libanesisc­hen Wettbewerb­sbeitrag „L’insulte“von Ziad Doueiri.
FOTO: HANDOUT/LABIENNALE/DPA Ein Anwärter auf den Goldenen Löwen? Eine Szene aus dem libanesisc­hen Wettbewerb­sbeitrag „L’insulte“von Ziad Doueiri.

Newspapers in German

Newspapers from Germany