Wenn man sich gegenseitig das Wasser abgräbt
Wie wirken sich Stadt-Land-Gefälle und Ortsverödungen im Saarland aus? Was wäre zu tun?
SAARBRÜCKEN Immer mehr Saarländer wollen in der Stadt leben – wegen besserer Infrastrukturen und attraktiverer Freizeitangebote. Drohen Orte auf dem Land auszubluten? Über Dorfentwicklung, Ortskernsanierung und Immobilienverfall haben wir mit den Architekten Bettina Berwanger (St. Wendel) und Igor Torres (Saarbrücken) – beide im Vorstand der Saar-Architektenkammer – sowie mit Hans-Joachim Hoffmann, Vorsitzender des Eigentümerverbandes Haus und Grund, gesprochen.
Immer mehr Menschen ziehen in die Städte. Hat der ländliche Raum im Saarland auf Dauer verloren?
TORRES Die Situation wird verschärft durch immer größere Konkurrenz der Gemeinden untereinander. Es wird gebaut auf Teufel komm raus und immer neues Bauland ausgewiesen. Das bringt zwar zuweilen mehr Einwohner und steigende Steuereinnahmen, ist aber ökologisch und ökonomisch fragwürdig. Und nicht nachhaltig. Das Saarland muss im Vergleich zu anderen Bundesländern in den nächsten Jahrzehnten einen erheblichen Bevölkerungsschwund verkraften.
BERWANGER Die Gemeinden graben sich gegenseitig das Wasser ab. Mir fehlt der erkennbare Wille zur Zusammenarbeit. Es fehlt eine Koordination der Interessen auf Landkreisebene.
Der Landesentwicklungsplan Umwelt von 2006 sollte dafür sorgen, dass die Neuausweisung von Bauland sehr zurückhaltend gehandhabt wird. Dieser Plan wurde immer weiter aufgeweicht. War das ein politischer Fehler? Nach jüngsten Untersuchungen ist alleine im Kreis St. Wendel um über 700 Prozent am Bedarf vorbeigebaut worden.
HOFFMANN Es wird stark am Bedarf vorbeigeplant. Die Wohnungen stehen nicht dort, wo sie benötigt werden. Gleichzeitig nehmen die Leerstände immer weiter zu.
BERWANGER Das sieht man leider immer häufiger in den Dörfern. Nicht nur, dass immer mehr Häuser leer stehen, viele verfallen. Ich verstehe nicht, warum es so schwer ist, alte Häuser in Ortskernen entweder zu sanieren und umzubauen oder sie unter Umständen auch abzureißen und dort neu zu bauen.
TORRES Viele Familien, die nach einem schönen Haus mit Garten suchen, haben keine wirkliche Vorstellung davon, wie attraktiv sie in einem umgebauten Haus wohnen könnten. Das liegt auch daran, dass die meisten Häuser im Saarland nicht von einem Architekten gebaut werden, sondern von Bauträgern und oft nach dem Fertighausprinzip.
Was spricht heute überhaupt für das Leben auf dem Land? Viele ziehen in die Städte, weil dort die Versorgung und Infrastruktur besser ist. Auch für ältere Menschen, die dort zum Beispiel ihren Arzt besser erreichen oder im Notfall auch ein Krankenhaus, ist das ein Argument.
BERWANGER So, wie es derzeit läuft, kann man Orte nicht weiterentwickeln. Ich kenne Ortsteile, die hatten früher Geschäfte, Kneipen und andere Orte der Begegnung, bis auf der grünen Wiese mehrere Supermärkte angesiedelt wurden. Mit diesem Schritt waren die Ortsteile zum Sterben verurteilt. Erst haben die Geschäfte zugemacht, dann war die Post weg, und selbst die Bank kommt nur noch mit einem mobilen Bus in den Ort. Jetzt machen auch noch die Kirchen zu.
Wie weit reichen die Auswirkungen?
BERWANGER Die Leute sind isoliert und können Geschäfte nur noch mit dem Auto erreichen. Wenn sie aber schon mit dem Auto fahren, dann können sie auch gleich 20 Kilometer weiter in die nächste Kreisstadt fahren. Es kann aber doch nicht sein, dass immer mehr Menschen ihre Einfamilienhäuser verkaufen und deren Wert auch noch fällt, weil so viele Häuser gleichzeitig auf dem Markt sind. Und eben in den Nachbar-Kreisstädten auch noch gebaut wird. Dort werden werden Quadratmeterpreise von 2500 bis 3000 Euro pro Quadratmeter erzielt.
Haben kleine Gemeinden auf dem Land angesichts dieser Fakten noch eine Chance, gegenzuhalten?
HOFFMANN Im Augenblick bemerken wir immer noch eher einen Domino-Effekt. Eine Gemeinde eröffnet Handel auf der grünen Wiese, die nächste folgt.
Ist Ihnen ein Ort im Saarland bekannt, der durch eine Wiederbelebung des Ortskerns die Entwicklung umdrehen konnte?
BERWANGER Die Frage ist doch: Was versteht man unter Attraktivität? Im Ortskern von Bliesen bei St. Wendel entstehen gerade wieder einige Einkaufsmöglichkeiten im Ort. Doch Lebensqualität bedeutet ja noch mehr. Es muss dort auch wieder ein sozialer Zusammenhalt entstehen. Dazu reicht es nicht, ein Dorfgemeinschaftshaus zu haben. Es muss schon Freude machen, in diesen Ort zu kommen. Der Gesamteindruck muss ästhetisch anspruchsvoll sein. Ein Dorfplatz muss zum Verweilen einladen. Heimatgefühl muss der Ort auch bieten. Und Identifikation. Ich habe aber den Eindruck, dass der Wille zur Individualität im Saarland auch bei den Bauweisen mittlerweile bis zum Exzess ausgelebt wird.
Haben die Saarländer ein Bewusstsein für das verbliebene Potenzial ihrer Orte?
HOFFMANN Es gibt Orte wie Bliesmengen-Bolchen, die sind sehr schön und sauber. Es ist eine Freude, da durchzufahren. Da spüren Sie auch das Gemeinschaftsgefühl der Einwohner, aus ihrem Ort etwas Vorzeigenswertes zu machen. BERWANGER Die Saarländer haben schon Sinn für Ästhetik. Das Problem liegt aus meiner Sicht im zunehmenden Rückzug ins Private. Diesen Bereich weiß man zu schätzen und gestaltet ihn mit großem Aufwand. Was vor einem unmittelbar auf der Straße stattfindet, interessiert einen eher nicht mehr.
TORRES Es gibt sehr unterschiedliche Beispiele. Im Bliesgau etwa oder auch in Ottweiler mit seiner Altstadt finden wir noch Orte mit einer traumhaften örtlichen Struktur: gepflegt, auch interessant als Orte der Begegnung. Doch auch unter touristischen Gesichtspunkten haben wir ein Problem durch die fehlende Politik einer gezielten Ortskernsanierung. Das merken Touristen spätestens abends, wenn sie auf dem Weg zu ihrer Unterkunft eigentlich mit geschlossenen Augen durch den Ort gehen müssten. Es wäre schon viel geholfen, wenn wir im Saarland einen Verkehrs- oder Dorfmanager bekämen, der sich jeweils der Sorgen eines oder mehrerer Dörfer annimmt. Mit dem Ziel, gemeinsam mit den Bürgern und der Politik wieder einen Ort zu schaffen, der dörflichen Zusammenhalt bietet.
Dörfliche Struktur lebt vom sozialen Zusammenhalt. Ist der nicht als Grundlage für alles immer mehr im Schwinden begriffen?
BERWANGER Es fängt damit an, dass wir in den Orten keine Plätze mehr haben, an denen man sich zufällig trifft, diese kleinsten Zellen der Begegnung außerhalb der eigenen vier Wände. Solche, die nicht im Gasthaus oder der Kneipe liegen. Gleichzeitig könnten aber auch neue, gemeinsame Wohnstrukturen zwischen den Generationen entstehen. Häuser, in denen mehrere Generationen zusammenleben, die sich gegenseitig helfen. An die Stelle der Oma, die früher geholfen hat, tritt heute vielleicht die Nachbarin.
Zum Zusammenhalt tragen auch Vereinsfeste bei. Welche Bedeutung haben Vereine heute noch?
BERWANGER Die sind immer mehr gefährdet durch zunehmende Beschränkungen, Vorgaben und Vorschriften. Da darf man sich nicht wundern, wenn die letzte Bastion auf dem Land, die Vereinsfeste, verloren geht, weil der ehrenamtliche Vorstand vor den Haftungsrisiken zurückschreckt. Für den Dorfzusammenhalt ist das tödlich. Der öffentliche Raum ist mittlerweile überreguliert. Ich kann ja nicht einmal mehr einen Umzug zur Fastnacht organisieren, weil die Sicherheitsvorschriften so hoch sind. Das Ganze hat sich zu einer Lawine entwickelt.
Könnte es sich auch zu einer Chance für ländliche Gebiete entwickeln, wenn es gelänge, Arbeitsplätze und Wohnmöglichkeiten gleichzeitig zu bieten und die Wege von daheim zur Arbeitsstelle zu verkürzen?
TORRES Das ist eine Chance, auch für die Landesplanung gerade jetzt, wenn Sie die Diesel-Debatte verfolgen. Momentan werden Staus und CO2-Belastung noch in Kauf genommen. Wenn Diesel-Fahrverbote kommen, wird Pendeln uninteressant.
Wäre es nicht ein Ziel, dass kleine und mittelständische Arbeitgeber aus den Ballungszentren raus aufs Land gehen, dort Arbeit bieten und so Betriebe und Arbeitnehmer wieder näher zusammenrücken? Eine Perspektive oder eine Illusion?
HOFFMANN Wenn die Autobahnanbindung stimmt und der Unternehmer über schnelles Internet verfügen kann, dann ist das keine Illusion mehr. Im Zeitalter der Digitalisierung muss der Firmensitz nicht mehr im Ballungszentrum sein.
TORRES Lange wurden nur Wohngebiete ausgewiesen und nicht auf ein vernünftiges Miteinander von Wohnen und Arbeiten geachtet. Deshalb gibt es jetzt verstärkt wieder Wohnund Gewerbegebiete. Auch in City-Lagen gibt es wieder mehr Durchmischung mit gewerblicher Nutzung im Erdgeschoss und Wohneinheiten darüber. Das kann ich mir auch in ländlichen Gemeinden gut vorstellen. Bedenken Sie, dass man dank der technischen Möglichkeiten viel häufiger von Zuhause aus arbeiten kann. Der Dorfkern bietet die Möglichkeit, Arbeit und Leben wieder an einem Ort zu vereinen. BERWANGER Ich glaube, dass wir mit moderner Breitband-Technik neue Chancen bekommen, auch für junge Menschen. Einfach wird das aber nicht, das Saarland verfügt zwar über viele Industrie-Arbeitsplätze, aber weniger über einen Dienstleistungssektor. Für mich steht aber fest: Die Trennung von Wohn- und Gewerbegebieten hat keine Zukunft.
Wo besteht jetzt der dringendste Handlungsbedarf, um ein Umdenken in die Tat umzusetzen?
TORRES Der Landesentwicklungsplan Siedlung und der für Umwelt müssen neu aufgelegt werden mit klaren Prioritäten in der nachhaltigen Wohnraum- und Gewerbeermittlung. Das muss völlig ideologiefrei erfolgen.
BERWANGER Ein Anfang wäre schon mal das Ende des Baus weiterer Supermärkte auf der grünen Wiese. Man kann es ja auch machen wie in der Schweiz. Die bauen mittlerweile höchst anspruchsvolle Supermärkte mitten in die City und den Ortskern.
Wolfersheim zeigt, was man mit einer Gestaltungssatzung bewegen kann. Homogener als dieser Ort ist hier kein zweiter. Brauchen wir nicht zwingend für weitere Orte Gestaltungssatzungen?
BERWANGER Eine Gestaltungssatzung ist möglicherweise eine Einschränkung der individuellen Freiheit des Einzelnen, aber ein Zugewinn an Freiheit für alle anderen. Ich selbst verstehe zum Beispiel nicht, warum mittlerweile in Orten so viele Vorgärten aus Schotterwüsten bestehen. Fragt man nach, heißt es bei der Ortsverwaltung: Da können wir nichts dran ändern, das ist halt der individuelle Geschmack. Ich halte deshalb eine Gestaltungssatzung für wichtig, aber es muss eben auch gelingen, den Leuten zu vermitteln, dass solche Grundsätze ein Vorteil sind.
Kneift die Politik bei der Einführung solcher Gestaltungssatzungen?
HOFFMANN Ja. Ich bin aber sicher, dass ein solches Instrument als Grundlage zur Verschönerung von Orten vermittelbar wäre.
TORRES Das bringt jedem Vorteile. Die Gefahr, dass Immobilien im Wert sinken, wird in einem solch gepflegten, heterogenen Ortsbild viel geringer. Es sind also nicht nur ästhetische Argumente, wie sie Architekten gerne vorbringen, die für eine Gestaltungssatzung sprechen.
BERWANGER Ich glaube, wir haben es da im Saarland auch ein Stück schwerer, weil uns die Identifikation mit Heimat und der baulichen Identifikation mit dieser Heimat schwerer fällt. Das liegt einfach daran, dass wir geschichtlich als Region mehrfach hin und her gereicht wurden. Vielleicht müsste man einfach auch mal mehr darüber aufklären, dass schon ein schönes saarländisches Bauernhaus einen großen Wert darstellt und auch dessen Erhalt. Man muss auch einfach mal mehr vermitteln, dass Individualität nicht das wichtigste Ziel auf der Welt ist.
Wie wollen Sie das vermitteln?
BERWANGER Die reine Individualität alleine ist am Ende eine Sackgasse. Wenn es eine Gestaltungssatzung schafft, den Menschen aufzuzeigen, was Baukultur im Saarland ausmacht, dann halte ich sie für wichtig. Einfach auch, um aufzuzeigen, was das Saarland schöner machen kann als andere Orte und Regionen. Das Saarland braucht mehr Gesicht.
Das könnte aber ein langer Weg werden. Strahlen nicht gegenwärtig viele saarländische Orte Lieblosigkeit und Beliebigkeit statt Selbstbewusstsein aus? Das muss doch auch Zugereiste irritieren.
TORRES Wir können nicht alles gleichzeitig machen, sondern müssen klare Prioritäten setzen. Wenn ich Wandertourismus oder auch den Bostalsee fördern will, dann müssen zunächst die davon betroffenen Ortsbilder verschönert werden. Kürzlich bin ich den Saar-Hunsrück-Steig gelaufen und habe auch abschreckende Ortsbilder gesehen: Häuser im Baumarktstil und Bausünden aus 30 Jahren. Die Franzosen haben im Gegensatz zu uns schon lange zu rigorosen Gestaltungssatzungen gegriffen mit dem Ziel der Sanierung zu gepflegten Ortskernen. Die Erfolge sehen Sie auf den ersten Blick.
Wie wollen sich denn die Architekten stärker in den Verschönerungsprozess der Ortskerne einbringen?
BERWANGER Ich fände es schon sehr wichtig, wenn es mehr Wettbewerbe gäbe, in die Architekten einbezogen werden. Angefangen von der Ansiedlung eines neuen Supermarktes bis zur Gestaltung eines neuen Dorfplatzes.
TORRES Man darf nicht nur die finanziellen Möglichkeiten alleine sehen. Wir wollen uns gerne mit Ideen einbringen.
Wäre es ein Ansatz, wenn jeder Landkreis einen hauptamtlichen Architekten als Stilberater bekommt, der Bürgersprechstunden abhält und Beratungen anbietet?
„So, wie es derzeit läuft, kann man Orte nicht weiterentwickeln.“
Architektin Bettina Berwanger
BERWANGER Absolut. Aber es müsste ein Fachmann sein, wenn es um Gestaltungsfragen geht. Es gibt heute schon Gemeinden, die an uns herantreten und an unserer Hilfe interessiert sind.