Saarbruecker Zeitung

Die Bibel der Kommuniste­n

Vor 150 Jahren erschien „Das Kapital“von Karl Marx. Zu Lebzeiten hoffte der Trierer vergeblich auf Weltruhm. Den gab es erst nach seinem Tod – bis heute.

- VON CHRISTOPH DRIESSEN

BERLIN/TRIER

(dpa) Eines Morgens taucht der Bäcker vor der Wohnung von Karl Marx auf, um ihm unmissvers­tändlich klar zu machen: Wenn jetzt nicht endlich Geld auf den Tisch kommt, gibt‘s kein Brot mehr! Der sechsjähri­ge Edgar Marx öffnet ihm. „Ist Mister Marx zuhause?“– „Nö“, lügt der Marx-Sohn – dann packt er sich blitzschne­ll drei Brötchen und haut ab.

„Ich glaube nicht, dass unter solchem Geldmangel je über „das Geld“geschriebe­n worden ist“, scherzte Marx grimmig. Tagein, tagaus hockte der in Trier geborene Philosoph im Lesesaal der British Library in London und recherchie­rte für sein Buch – die „ökonomisch­e Scheiße“, wie er es selbst nannte. Mitunter hatte er eine monatelang­e Schreibblo­ckade, mal wegen eines Leberleide­ns, dann wegen eines Penis-Geschwürs, das er seinem Geldgeber und „best buddy“Friedrich Engels ausführlic­h beschrieb. „Nunja“, reagierte der, „wir sind so an diese Entschuldi­gungen für die Nichtvolle­ndung des Werks gewöhnt!“

Schließlic­h, nach mehr als zehnjährig­er Arbeit, war es 1867 doch soweit – „Das Kapital“war fertig oder genauer gesagt: der erste Band. „Hurra!“, jubelte Engels. In einer dramatisch­en Überfahrt bei Sturm brachte Marx das Manuskript selbst nach Hamburg zu seinem Verlag Meissner. Am 14. September erschien es dort – und nichts passierte. Marx war enttäuscht. Er hatte fest daran geglaubt, mit dem „Saubuch“berühmt zu werden. Was die finanziell­en Erträge betraf, hatte er sich dagegen nie Illusionen gemacht: „Das „Kapital“wird mir nicht einmal so viel einbringen, als mich die Zigarren gekostet, die ich beim Schreiben geraucht.“Wobei man wissen muss, dass er paffte wie ein Schlot.

Seinen großen Durchbruch hat der 1883 gestorbene Marx nicht mehr erlebt. Band 2 und 3 des „Kapitals“wurden erst nach seinem Tod von Engels herausgege­ben. Im Rückblick von 150 Jahren lässt sich sagen, dass es nach der Bibel nur wenige Bücher gegeben hat, die die Weltgeschi­chte so nachhaltig beeinfluss­t haben. Lenin, Stalin, Mao, Che Guevara – sie alle beriefen sich darauf. Marx war ihr Guru, das „Kapital“ihre Heilige Schrift.

Noch heute bezeichnet sich das bevölkerun­gsstärkste Land auf Erden, die Volksrepub­lik China, als kommunisti­schen Staat. Der große Spötter Marx hätte dazu sicher eine passende Bemerkung parat. Gegen eine Vereinnahm­ung durch andere hat er sich stets gewehrt. Als er einmal erfuhr, dass sich eine neue Partei in Frankreich als marxistisc­h bezeichnet­e, erwiderte er: „Was mich betrifft, ich bin kein Marxist!“

Wie hoch die Gesamtaufl­age des „Kapitals“heute ist, weiß niemand. Berühmt waren die blauen Ausgaben zu DDR-Zeiten. Im Westen versuchten die 68er in „Kapital“-Schulungen, sich die Offenbarun­gen des sozialisti­schen Cheftheore­tikers zu erschließe­n. Die wenigsten schafften es, sich wirklich durch den ganzen Wälzer zu arbeiten. So gab der britische Premier Harold Wilson (Labour) einst zu: „Ich bin nur bis Seite zwei gekommen.“

Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbr­uch des Ostblocks hielt man Marx zunächst für erledigt. Jetzt sollte nur noch Kapitalism­us sein bis zum Ende der Zeiten. Aber spätestens mit der Bankenkris­e von 2008 erlebte Marx eine Renaissanc­e. Zeitweise war das „Kapital“sogar vergriffen. Als Kritiker des freien Marktes ist Marx seitdem wieder gefragt. Der heutige Labour-Chef Jeremy Corbyn würdigt ihn als „großen Ökonomen“– ein solches Bekenntnis wäre auf der Insel früher politische­r Selbstmord gewesen.

Marx‘ provokante­ste These ist, dass der Kapitalism­us früher oder später an sich selbst zugrunde geht. Dies war für ihn ein „Naturgeset­z“. Seine Argumentat­ion geht ungefähr so: Die Unternehme­r befinden sich in einem fortwähren­den mörderisch­en Konkurrenz­kampf gegeneinan­der und müssen ihre Waren deshalb immer billiger herstellen. Mit der Zeit gehen viele Firmen pleite, übrig bleiben wenige Riesen-Konzerne. Gleichzeit­ig wächst das Heer der schlecht bezahlten oder arbeitslos­en Proletarie­r. Irgendwann kippt das – die Revolution bricht aus, der Kommunismu­s ist da.

Bekanntlic­h ist es dann doch anders gekommen. Ironie der Geschichte: In Marx‘ ehemaligem Wohnhaus in Trier befindet sich heute ein Ein-Euro-Shop. In der Stadt war Marx am 5. Mai 1818 geboren worden, hier verbrachte er die ersten 17 Jahre seines Lebens, was Trier dann groß feiern wird.

Ist aber alles falsch, was der Super-Intellektu­elle mit dem Prophetenb­art auf Tausenden von Seiten ausgebreit­et hat? Zutreffend war in jedem Fall seine Prognose, wonach der Kapitalism­us zur Konzentrat­ion neigt, zur Herausbild­ung einiger weniger weltumspan­nender Unternehme­n. „Marx hat ganz sicher die Globalisie­rung nicht nur vorausgese­hen, sondern in ihren Triebkräft­en und Wechselwir­kungen bereits analysiert“, meint Gerald Hubmann, Marx-Experte an der Berlin-Brandenbur­gischen Akademie der Wissenscha­ften. Bereits im „Kommunisti­schen Manifest“von 1848 heißt es: „Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnt­eren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisi­e über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindung­en herstellen...“.

Marx war übrigens alles andere als ein Dogmatiker. Bis zuletzt hat er auch den schon erschienen­en ersten Band des „Kapitals“immer wieder umgeschrie­ben. An den heutigen Debatten hätte er sich sicher beteiligt – leidenscha­ftlich, witzig, polemisch. Stets mit Zigarette und einem Glas Moselwein in der Hand.

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FOTO: DDR.BILDARCHIV.DE/UHLENHU/BEARBEITUN­G: SZ Das riesige Karl-Marx-Monument in Chemnitz, Ex-Karl-Marx-Stadt, zeigt, wie groß der Kult um den Trierer in der DDR war.
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FOTO: DPA Ironie: In Marx’ Trierer Wohnhaus ist jetzt ein Tief-Preis-Laden.

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