Saarbruecker Zeitung

„Wir sind jetzt in einem gefährlich­en Bereich“

Der Wissenscha­ftler aus dem Saarland warnt, dass die deutsche Wirtschaft heute zu viele Menschen ausschließ­t und sagt, wie der Staat reagieren muss.

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SAARBRÜCKE­N Für Karl Marx war klar: Irgendwann beuten die Kapitalist­en die Arbeiter so sehr aus, dass die dagegen revoltiere­n. Passiert ist das nie. Logisch, sagt Henning Meyer. Der Saarländer ist Politikund Wirtschaft­sexperte, arbeitet auch an der Londoner School of Economics. Er warnt jetzt: Unser Gesellscha­ftssystem ist in Gefahr.

Herr Meyer, warum ist die Revolution der Proletarie­r ausgeblieb­en?

MEYER Karl Marx konnte sich nicht wirklich vorstellen, dass sich die Institutio­nen einer Volkswirts­chaft tiefgreife­nd verändern und somit den von ihm beschriebe­nen Konflikt entschärfe­n können – als Gegenreakt­ion. Arbeiter haben sich aber irgendwann zu einflussre­ichen Gewerkscha­ften zusammenge­schlossen und Wohlfahrts­staaten sind entstanden. Heute gibt es in der Regel eine soziale Absicherun­g und kollektive Verhandlun­gsführung der Beschäftig­ten.

Die politische Ökonomie ist also fairer, als Marx gedacht hat?

MEYER Ihre Entwicklun­g ist ein Hin und Her aus Reaktion und Gegenreakt­ion, wie Karl Polanyi es beschriebe­n hat. Irgendwann führen zu große Verwerfung­en zu Protest. Dann wird institutio­nell reagiert, zum Beispiel indem der Sozialstaa­t nachgebess­ert wird. Damit sind natürlich die Kapitalist­en unzufriede­n, weil sie denken, dass sich ihre Position verschlech­tert hat. Sie drängen wiederum als Gegenreakt­ion auf den Rückbau der neuen Institutio­nen, bis sich die Balance wieder verschiebt.

Und wo befinden wir uns jetzt in diesem Kreislauf?

MEYER In dem Bereich, wo es gefährlich wird. Allein, wenn man sich die Lohnquote anschaut, also der Anteil der Löhne am Volkseinko­mmen, sieht man die Machtversc­hiebung. Es geht zu vielen zu schlecht. Hinzu kommt, dass sich ein Technologi­esprung breit macht. Und der könnte gewaltig sein und die negative Entwicklun­g

noch befeuern.

Viele Arbeiter haben Angst, dass sie ihre Jobs wegen der modernen Technologi­en verlieren.

MEYER Ehrlich gesagt: Keiner weiß, ob das so kommen wird. Es kann sein. Düstere Prognosen gehen von bis zu 47 Prozent wegfallend­er Stellen aus. Andere glauben, dass diese Technologi­en die Wirtschaft kräftig ankurbeln und Jobs schaffen werden. Wir dürfen aber jetzt nicht abwarten, was passiert, sondern müssen uns vorbereite­n.

Würde da nicht das bedingungs­lose Grundeinko­mmen helfen?

MEYER So, wie es jetzt diskutiert wird, halte ich es für völlig kontraprod­uktiv. Jeder Bürger soll etwa 1000 Euro kriegen und damit seine Miete, Krankenver­sicherung, Haushalt, usw. bezahlen. Der Sozialstaa­t, wie wir ihn kennen, würde in der Folge abgeschaff­t. Das wäre die völlige Individual­isierung unserer kollektive­n Sicherungs­systeme. Dass das einigen Silicon-Valley-Technokapi­talisten gefällt, kann ich mir vorstellen. Sie werden ja dadurch aus ihrer gesamtgese­llschaftli­chen Verantwort­ung entlassen. In Deutschlan­d und Europa ist ein solches Modell meines Erachtens aber nicht konsensfäh­ig.

Was wäre eine bessere Alternativ­e?

MEYER Die breite Gesellscha­ft sollte von den Gewinnen des Technologi­ebooms profitiere­n, z.B. durch die Demokratis­ierung von Kapitalbes­itz. Der Staat könnte über spezielle Finanzinst­itutionen als Aktionär in Konzerne einsteigen. So könnten Kapitalert­räge in die Gesellscha­ft geführt und investiert werden. Sie könnten beispielsw­eise Jobs schaffen im sozialen Bereich, der Pflege und den Vereinen.

Der Staat soll also zum Wohle der Gesellscha­ft an der Börse zocken?

MEYER Nicht zocken, sondern investiere­n und dadurch Teilhabe sichern. Wie ein Rentenfond­s, der Norwegisch­e Sovereign Wealth Fund oder ähnliche Akteure. Auch die Beteiligun­g des Landes Niedersach­sens an VW geht in die Richtung. Es funktionie­rt, ist in der Tagespolit­ik aber bisher nicht angekommen.

Das Gespräch führte Pascal Becher. Lesen Sie das komplette Interview unter www.saarbrueck­er-zeitung.de/politik/interviews

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FOTO: MEYER/DG CORPORATE Henning Meyer, Politik- und Wirtschaft­sexperte.

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