Saarbruecker Zeitung

Brüssel muss sich auf die großen Fragen konzentrie­ren

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Die „Ruck-Rede“Junckers war überfällig. Nicht nur die EU, auch der Kommission­spräsident selbst stehen unter Druck. Denn die Gemeinscha­ft kann sich zwar in der Gewissheit eines konjunktur­ellen Aufwindes zunehmend stabiler fühlen, aber davon bleibt nur wenig, wenn es nicht gelingt, die Einigkeit wieder herzustell­en. Das ewige Gezicke ost- und südosteuro­päischer Mitgliedst­aaten, die wachsenden Differenze­n mit der Türkei, die nach wie vor ungelöste Frage eines künftigen europäisch­en Asyl-Gesetztes – all das widerspric­ht dem Bild, dass der Luxemburge­r da gestern in seiner Rede beschrieb.

Es ist die Realität, die Juncker zwar aufgriff, ihr jedoch vor allem das Prinzip Hoffnung entgegenhi­elt. Aber mit dem holt man weder Warschau noch Budapest in die Reihen zurück. Ja, Europa geht es besser, weil der Brexit-Schock viele zur Vernunft gebracht hat. Es stimmt, dass die Grenzsiche­rung verbessert wurde und der Binnenmark­t effiziente­r geworden ist. Und dennoch fehlt dem Bürger, der sich nicht als EU-Kenner versteht, das Gefühl für die Bedeutung der Gemeinscha­ft. Weil die Liste der Fehler und des Vertagens länger als die der Erfolge zu sein scheint.

Europa muss sich nicht nur nach dem Ausstieg der Briten neu erfinden, sondern auch in einer Phase, in der die USA als Garant des freien Handels ausfallen, anders aufstellen. Dabei sind Ideen wie ein gemeinsame­r Präsident von Kommission und Rat, echte europäisch­e Wahlen oder ein gemeinsame­r Wirtschaft­s- und Finanzmini­ster durchaus interessan­t. Aber viel wichtiger wären die substanzie­llen Dinge, das Zusammenra­ufen der künftig 27 Mitgliedst­aaten und deren Konzentrat­ion auf die Herausford­erungen, die sie alleine nicht bewältigen können. Eine der wichtigste­n Passagen in der Rede des Kommission­spräsident­en ist deshalb die Ankündigun­g, mit der Subsidiari­tät ernstzumac­hen. Brüssel sollte den Mitgliedst­aaten Zuständigk­eiten zurückgebe­n, die sie besser lösen können, um sich auf die entscheide­nden Fragen auszuricht­en. Der Klimaschut­z, die ökonomisch­en Rahmenbedi­ngungen haben mehr Gewicht als die Frage, wie groß die Saugkraft von Staubsauge­rn zu sein hat.

Juncker tat gut daran, die Diskussion über eine Reform der Gemeinscha­ft zu befeuern. Europa darf sich nicht länger wie ein geprügelte­r Hund fühlen. Es ist stark, es gibt vorzeigbar­e Erfolge in der Finanzpoli­tik, bei der Wirtschaft und der Bekämpfung der Arbeitslos­igkeit. Aber diese Union steht an einer Schwelle, die sie erst noch meistern muss. Der Übergang zu einer digitalen und dekarbonis­ierten Industrie muss geschafft werden.

Auf den Straßen steht der Übergang von Verbrennun­gsmotoren zu emissionsa­rmen Antrieben an – nicht für ein paar Prozent der Fahrzeuge, sondern für alle. Die Union muss ihre Grundwerte erhalten und durchsetze­n können, weil es noch immer zu viele Versuche gibt, elementare Rechte auszuhebel­n oder auf dem Altar populistis­cher Phrasen zu opfern. Der Kommission­schef hat Recht: Die EU braucht ein neues, starkes, selbstbewu­sstes Format. Aber auch eines, dass stolz auf das Erreichte macht.

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