Der Vatikan als Entführer?
Seit 34 Jahren fehlt von ihr jede Spur. Jetzt soll ein Dokument belegen, dass hinter dem Verschwinden von Emanuela Orlandi der Heilige Stuhl steckte.
(SZ/kna) Kardinäle entführen eine 15-Jährige, halten sie an wechselnden Orten und zuletzt im Vatikan gefangen, schmieden Ränke mit Geheimdiensten. Ein verstörendes Szenario tut sich seit Montag für italienische Zeitungsleser auf. Es ist eine neue Version des Schicksals von Emanuela Orlandi, 1983 verschwundene Tochter eines Vatikan-Angestellten. Der Fall Orlandi gehört zu den spektakulärsten Kriminalfällen Italiens. Am 22. Juni 1983 kehrte die Jugendliche nicht nach Hause zurück; bald meldeten sich angebliche Entführer, die eine Freilassung des türkischen Papst-Attentäters Ali Agca forderten. Später hieß es, das Mädchen sei von der Magliana-Bande entführt, kurze Zeit später getötet und im Küstenstädtchen Torvaianica einbetoniert worden.
Seit 34 Jahren fehlt von Emanuela Orlandi jede Spur. Die Justiz nahm im Mai 2012 nochmals Ermittlungen auf, nachdem an der römischen Opus-Dei-Universität im Grab des Chefs der Magliana-Bande fremde Knochen gefunden wurden. Vermutungen, es handele sich um Überreste Orlandis, erwiesen sich als falsch.
2015 schloss die Staatsanwaltschaft die Akten. Nicht jedoch die Familie Orlandi. „Die Mauer des Schweigens beginnt zu bröckeln“, hält Pietro Orlandi am Montagabend auf Facebook fest. „Wenn Papst Franziskus allen erlaubt zu reden, könnten wir endlich wissen, was sie mit meiner Schwester gemacht haben“, sagt er. Im Vatikan gebe es sehr viele Personen, die nicht sprechen dürften.
Dass Pietro Orlandi nun wieder Hoffnung hegt, hängt mit dem Dokument zusammen, das am Montag in den großen italienischen Zeitungen „Corriere della Sera“und „La Repubblica“erschien. Das fünfseitige und auf März 1998 datierte Dossier trägt den Titel „Summarische Aufstellung der vom Vatikanstaat für die Staatsbürgerin Emanuela Orlandi getätigten Kosten“. Sollte es authentisch sein, dann legt es nahe, dass man im Kirchenstaat von 1983 bis 1997, also 14 Jahre lang und noch vor ihrem Verschwinden Informationen über das Mädchen sammelte, über ihren späteren Aufenthalt Bescheid wusste und Kosten für ihren Unterhalt tätigte. Ein unfreiwilliges Schuldeingeständnis?
Im Dokument werden Posten für eine Unterbringung in einem Mädchenheim in London aufgeführt, die Rede ist von Klinikaufenthalten, Kosten in einer Gynäkologieabteilung und falschen Fährten, die gelegt worden seien. 483 Millionen Lire, etwa 250 000 Euro, soll der Vatikan für Orlandi ausgegeben haben. Besonders makaber klingt der Posten
„Die Mauer des Schweigens beginnt zu bröckeln.“Pietro Orlandi Bruder der vor 34 Jahren verschwundenen Emanuela Orlandi
„Erledigung finaler Akte“für 21 Millionen Lire im Juli 1997, die eigentlich nur den Tod des Mädchens bedeuten können. Von Belegen auf 197 Seiten, von denen im Papier die Rede ist, gibt es keine Spur.
„Ich weiß nicht, ob das Dokument falsch oder authentisch ist“, sagt Emiliano Fittipaldi, einer der Journalisten, denen die Enthüllungsakte zugespielt worden ist. Tatsache sei, dass dieses Dokument sich lange in einem Tresor des Kirchenstaats befunden habe. Das Schreiben, das weder Unterschriften noch offizielle Stempel trägt, soll bei einem Einbruch im März 2014 aus dem Archiv der Präfektur für wirtschaftliche Angelegenheiten gestohlen worden sein.
Der Vatikan bezeichnete das Papier am Montag als Fälschung, die Informationen seien „völlig falsch und ohne Grundlage“. Auch die zwei hohen Kurienkardinäle Giovanni Battista Re und Jean-Louis Tauran bestreiten die Echtheit. Sie werden im Dossier als Adressaten angeführt. Verfasser soll der ehemalige und 2013 verstorbene Chef der Vatikan-Güterverwaltung Apsa, Lorenzo Antonetti, sein. Original oder Fälschung? Auch Pietro Orlandi sagt, er wisse nicht, was er glauben solle. „Sicher ist irgendetwas Uneingestehbares geschehen“, sagt der 57-Jährige. Solange man ihm nicht sage, wo seine Schwester begraben ist, werde er sie weitersuchen.