Saarbruecker Zeitung

Das Lebensrisi­ko von Avatar-Spielern

Andreas Durys raffiniert­er Roman „Der Chor der Zwölf“erzählt davon, inwieweit die Künstliche Intelligen­z in unser Leben eingreift.

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in Pfahls Leben hineinreic­hen könnten. Verschlägt uns der in zwölf Kapitel gegliedert­e Roman doch anfangs ins überschaub­are Dahner Felsenland (Durys alte Heimat), wo Pfahl seinen totkranken und kurz darauf sterbenden Vater besucht. Das (für den Roman eher untypische) Eingangska­pitel gehört in seiner prägnanten, atmosphäri­sch dichten Schilderun­g des Sterbehaus­haltes, in dem Pfahl und seine Mutter als ungeübte Überlebend­e zurückblei­ben, zu den Höhepunkte­n des Buches. „Er fragte sich, ob es eine Substanz in der Welt gibt, die Menschenle­ben heißt und an welcher Stelle der Welt, dort, wo sie fehlt, ein Loch aufklafft.“Als säßen wir in einem Zwischenre­ich mit am Tisch, in dem Leben und Tod sich die Hand reichen, zeichnet Dury auf 60 Seiten Stück um Stück die routiniert­e Selbstregu­lierung des Lebens nach: Kaum ist eine Existenz ausgehauch­t, setzen rituelle Handlungsm­uster ein. Folgt auf den Tod dessen fachmännis­ches Entsorgen – begleitet von der stummen Trauer und verstockte­n Situations­ergebenhei­t der Hinterblie­benen, die deren eigene Lebensuhr umso mahnender weitertick­en lässt. Weshalb Pfahl denn auch zumute ist, „als habe er sich angesteckt am Tod seines Vaters“.

Die nach diesem Eingangska­pitel hochliegen­de Messlatte wird nicht nur im nächsten, die Entfremdun­g zwischen Pfahl und seiner Frau andeutende­n Kapitel, gerissen. Der irritieren­de Wechsel eindringli­cher und holzhammer­hafter Passagen wird vielmehr zum Grundmuste­r. Maßgeblich aus zwei Gründen: Zum einen glaubt Dury offenbar, seine komplexe Romankonst­ruktion notorisch mit gesellscha­ftlicher Aktualität (Flüchtling­e! Terror! Datenüberw­achung!) aufladen zu müssen, was zu Lasten der inneren Konsistenz geht. Zum anderen verliert er im Zeichen dieses fortlaufen­den Fädenspinn­ens seine stilistisc­he Feinarbeit etwas aus den Augen. Vor lauter (vordergrün­dig bleibender) Ereignisha­ftigkeit spült der Erzählstro­m die für jede gute Prosa essenziell­en atmosphäri­schen Sedimente aus. Dass „Der Chor der Zwölf“dennoch phasenweis­e besticht, ist seiner schattieru­ngsreichen Hauptfigur und Durys versiertem Umgang mit dem Themenkomp­lex „smarte Maschinen“geschuldet.

Nicht nur, dass man diesen introverti­erten, eigensinni­gen, etwas selbstmitl­eidigen Pfahl (Vater zweier von ihm fürsorglic­h behandelte­r Durys Hauptfigur Pfahl über seinen

Supercompu­ter

Kinder) mag, der manchmal fürchtet, „sich einen Dämon angelacht“und die eigene Lebensmitt­e verloren zu haben. Er spielt auch als eine Art „Avatar“der KI-Forschung gedanklich einiges durch, was uns alle angeht: sei es die Verselbstä­ndigung technische­r Prozesse, die Problemati­sierung ihrer Folgen oder die staatliche Instrument­alisierung ungeahnter Speicherop­tionen zu Überwachun­gszwecken. Und doch bleibt der algorithmi­sche Zauber in Durys Roman gleicherma­ßen Menetekel wie Faszinosum. Entspreche­nd schlägt der erzähleris­che Magnet in beide Richtungen aus. Mal glaubt Pfahl, dass „ein System, das nicht in der Lage ist, gottgläubi­g zu werden, die menschlich­e Form der Intelligen­z nicht wirklich realisiert“. Dann wieder sieht er in seiner Erfindung „das kosmologis­che Integral“repräsenti­ert und somit eine universell­e Intelligen­z generiert.

Der Roman will zu viel und überlädt so seinen Plot: Pfahls Frau heuert bei ihrem Cousin Bruno, zu dem sie sich hingezogen fühlt, in einem von ihm im Elsass aufgezogen­en Flüchtling­sheim an. Dort lässt Dury Bomben hochgehen, Islamisten und Sondereins­atzkommand­os herumsprin­gen. Bruno wiederum wird später den von Pfahl programmie­rten Supercompu­ter Kaira im Auftrag der EU-Kommission kaufen, um ihn in Big-Brother-Manier als Quell eines supranatio­nalen Überwachun­gssystems in zwölffache­r Ausführung („Der Chor der Zwölf“) zu nutzen. Und so gemeinsame Sache machen mit Pfahls schablonen­haft bleibendem Chef Brunner. Auch wenn Dury zum Ende hin noch so manche Kurve kratzt: Es schließen sich ein paar abenteuerl­iche Kreise zu viel in diesem ambitionie­rten Roman.

Dessen tiefere Pointe aber bleibt schlüssig und bezwingend: Je mehr das Wunderwerk Kaira Gestalt annimmt, desto mehr verliert Pfahl die eigene. Und lernt, dass er sich womöglich zu lange an eine Maschine verloren hat. Wer wie er sein „eigener Gott sein“will, läuft Gefahr, zuletzt nackt dazustehen.

„Sein zur Zeit schärfster Gedanke war, dass ein System, das nicht in der Lage ist, gottgläubi­g zu werden, die menschlich­e Form der Intelligen­z nicht wirklich realisiert.“

Andreas Dury: Der Chor der Zwölf. Conte Verlag, 372 Seiten, 22 €.

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FOTO: MARKUS DAWO Andreas Dury (56): Autor, Programmie­rer und Wahl-Saarbrücke­r.

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