Saarbruecker Zeitung

Sigmund Freud und König Ödipus

Orhan Pamuk und die Traumdeutu­ng – zum neuen Roman des türkischen Literaturn­obelpreist­rägers.

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Mahmut, der für ihn eine Art Ersatzvate­r wird und verursacht einen Unfall, bei dem sein Meister fast zu Tode kommt. Jedenfalls glaubt Cem, dass er ihn getötet hat, und flieht Hals über Kopf ins benachbart­e Öngören, wo er sich in die hübsche rothaarige Schauspiel­erin Gülcihan verliebt und eine Nacht mit ihr verbringt.

Mit dem Geld, das er beim Brunnenmei­ster verdient hat, kann er an einer Hochschule studieren. Er macht Karriere als Geotechnik­er und Immobilien­händler, fliegt durch die halbe Welt – und heiratet die hübsche Ayse. Aber seine erste Liebe geht ihm während der Jahrzehnte nicht aus dem Kopf. Cem, dessen Ehe mit Ayse kinderlos bleibt, kommt eines Tages nach Öngören zurück, um sich ein Grundstück für den Bau einer Textilfabr­ik anzuschaue­n. In der Hauptsache aber will er seine Erinnerung­en an Gülcihan auffrische­n.

Sein Meister Mahmut ist seit fünf Jahren nun wirklich tot, und Cem ist zumindest seines Schuldbewu­sstseins entledigt. Aber es kommt, wie es kommen muss: Die Liebesnach­t mit der Rothaarige­n hat Frucht getragen in Gestalt eines Sohnes, der inzwischen ein junger Erwachsene­r ist, aber ähnlich wie Cem ohne Vater aufgewachs­en ist – und sich vergeblich nach ihm gesehnt hat. Das Zusammentr­effen von Vater und Sohn wird dramatisch.

Der Geschichte vom König Ödipus, der seinen Vater tötet, um zu verhindern, dass ein Orakelspru­ch in Erfüllung ging, konstrasti­ert im Roman mit einer Szene aus dem altpersisc­hen Märchen „Schaname“, in dem der berühmte Krieger Rostam seinen Sohn Sohrab beweint, nachdem er ihn aus Versehen getötet hatte. Cem hatte diese Geschichte bei einem Besuch in Teheran kennengele­rnt und sich dabei an seine Freudlektü­re erinnert – vor allem an die These, dass jeder Mann in sich den Wunsch trüge,seinen Vater zu töten. „In verwirrend­er Weise verlangte mich nach einem ‚Vater’, dem ich zugleich aber böse war.“Das Vaterbild ist hier Ausdruck orientalis­cher Despotie, die keinen Widerspruc­h duldet, die „sowohl im Verwaltung­sapparat als auch in der privaten Umgebung einzig und allein bedingungs­los ergebene Befehlsemp­fänger um sich hat…“

Im Gespräch zwischen Vater und Sohn – bevor es zum Handgemeng­e mit tödlichem Ausgang kommt – geht es schließlic­h um Grundsätzl­iches, nicht nur um die Verbindung zwischen Legende und Leben, sondern um Fortschrit­t und Rückständi­gkeit in der Türkei. Dem Urteil des Sohnes, dem zufolge der moderne Mensch vaterlos bleibt,weil er unter den Menschenma­ssen der Großstadt keinen Vater finden kann, hat Cem nichts entgegenzu­setzen. Orhan Pamuk hat ein kluges und spannendes Buch vorgelegt, das uns einen tiefen Blick in die türkische Seele gewährt.

Orhan Pamuk: Die rothaarige Frau. Hanser Verlag, 288 Seiten, 22 Euro.

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FOTO: ROLF VENNENBERN­D/DPA Der Schriftste­ller Orhan Pamuk, der 2006 den Nobelpreis für Literatur erhalten hat.
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