Saarbruecker Zeitung

In guter Familientr­adition

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Ich war noch nicht ganz wach, da sehe ich durch die offene Tür eine Frau im Wohnzimmer stehen: großer runder Kopf, dicke, starke Haare, die hinten zusammenge­bunden sind, und der Körper in eine Decke gehüllt. Zack, war ich wach. Schnell auf, aber da war sie schon wieder verschwund­en.

Dazu muss man wissen: Solche Erscheinun­gen sind in unserer Familie keine Seltenheit. Bei uns geben sich die Geister die Klinke in die Hand. Eine komplette Partygesel­lschaft in klassische­n Gewändern hat sich schon mal zu uns des Nachts an den Waldrand verirrt und munter umher gespukt. Und in einer anderen Nacht schritt jemand im Rücken unserer durchaus vitalen und nüchternen Wohnzimmer­bevölkerun­g, von der niemand sich traute, sich umzudrehen, über das Parkett. Da gibt es noch viel mehr.

Doch all das kenne ich nur von meiner Großmutter, die mir gegenüber am Küchentisc­h saß und davon erzählte, während der Rauch ihrer Zigarette in langen, dünnen Fäden ihren ergrauten Kopf umkreiste. Die Partygesel­lschaft hatte meine Mutter gesehen. Am meisten haben sie aber zwei Ufos beeindruck­t, von denen eines sich hinten über dem Wald blitzend um seine eigene Achse drehte und das andere sie bei der Rückfahrt vom Einkaufen unterbrach. Könnte auch ein und dasselbe gewesen sein, sahen sich sehr ähnlich, erzählt sie immer wieder und war jetzt ganz Ohr, weil endlich mal ich etwas mitzuteile­n hatte. Endlich. Na gut, ist noch ein bisschen mau, eine Frauengest­alt im Halbschlaf zu sehen. Aber das wird schon, die Familientr­adition scheint sich auf mich zu übertragen, da bin ich mir ganz sicher.

Die Großmutter hat’s erlebt, die Mutter hat’s erlebt – und jetzt endlich haben die Geister den nächsten Generation­enwechsel geschafft. Premiere im Hause Mandersche­id.

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