Trutzige Türme in den Hügeln der Toskana
In der Nebensaison wird es still im italienischen San Gimignano. Dann wirkt die weltberühmte Mittelalterstadt noch verwunschener.
SAN GIMIGNANO Eine ungewohnte Beschaulichkeit nimmt in der kalten Jahreszeit Besitz von San Gimignano, dessen Häuser und Türme die Kuppe eines Hügels über dem Elsa-Tal bedecken. Und wahrscheinlich ist es hier nie behaglicher als an einem Tag, an dem der kleine toskanische Ort über einem Meer aus Nebel schwebt, der sich unten in der Ebene sammelt und das Grün von Weinbergen und Olivenhainen verschluckt.
Tagesgäste starten ihre Besichtigungsrunde vor der Porta San Giovanni. Wehrhaft versieht das Stadttor seit dem 13. Jahrhundert seinen Dienst und gibt durch einen schmalen Eingang zwischen grob gehauenen Steinen den Weg in die Altstadt frei. Gleich hinter dem Torbogen treten Reisende in die schattige Kühle der Via San Giovanni, einer schmalen Straße, die ohne Umwege auf das Herz der mittelalterlichen Stadt zusteuert.
Betagte Häuser in Sandsteintönen begleiten das Pflaster der Gasse in stetem Bergan und machen in ihren unteren Etagen Platz für hunderterlei Lädchen. Da werden Souvenirs, Gemälde und Silberschmuck verkauft. Da strömt aus offenen Türen der Duft von Salami und Pecorino, während sich nebenan San Gimignanos trockener Weißwein, der Vernaccia, in Flaschen auf Regalen stapelt.
Das Ende der Via San Giovanni markiert der steinerne „Bogen der Becci“, hinter dem sich die schräge Fläche der Piazza della Cisterna öffnet. Paläste umarmen den Platz, in dessen Mitte ein altersschwacher Brunnen thront. So wie hier herrscht auch bei der Bebauung des Nachbarplatzes in Bezug auf Architekturstil und Baumaterialien die Anarchie des Mittelalters vor – jedes Haus auf der Piazza del Duomo ist individuell, jedes ist anders. Zwischen ihnen erhebt sich eine Handvoll trutziger Türme über das Meer blassroter Dächer und wirft schlanke Schatten auf die Stufen der Domtreppe.
Als Zeugen der Vergangenheit erzählen die Steinriesen eine spannende Episode der Stadtgeschichte: Es war das 12./13. Jahrhundert, als San Gimignano wuchs und gedieh und seine wohlhabenden Patrizierfamilien beim Bau ihrer Wohntürme einen wahren Wettstreit ausfochten. Prestige war alles, und so wollte jede den höchsten Turm besitzen. Nebenbei hatte der Festungscharakter dieser wenig komfortablen Unterkünfte auch einen praktischen Nutzen, denn unter anderem die blutigen Machtkämpfe zwischen Papstund Kaisertreuen sorgten über Jahrzehnte bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts für unsichere Zeiten. Und als wäre das nicht genug, besiegelten Pest und Hungersnöte das Schicksal San Gimignanos, das sich 1353 Florenz unterwarf. Geld war fortan Mangelware, und es wurde nichts Neues mehr gebaut.
Das „Manhattan des Mittelalters“blieb, wie es war. Von den einst 72 Geschlechtertürmen haben 14 die Zeiten des Niedergangs überdauert, wobei der höchste mit 54 Metern die Torre Grossa an der Piazza del Duomo ist. Wer bereits das reich mit Fresken ausgemalte Innere des romanischen Doms bewundert und das Museum im Palazzo Comunale nebenan besichtigt hat, wird auch vor den 218 Stufen nicht kapitulieren, die auf den Rathausturm führen. Von dessen Plattform tun sich wunderschöne Blicke auf – auf die malerischen Gassen San Gimignanos und das Hügelland der Toskana, das den alten Ort wie ein wild gemusterter Flickenteppich umfließt.