Unbekannte Klanggefilde
Experimentierfreudige Frauen: Björk und Fever Ray verlassen auf ihren neuen Alben die ausgetretenen Pfade der Branche
Zwei nordeuropäische PopAvantgardistinnen haben fast zeitgleich neue Alben veröffentlicht: die Isländerin Björk und die Schwedin Karin Elisabeth Dreijer alias Fever Ray. Sie liefern sich auf ihren aktuellen Werken einen regelrechten Wettstreit darüber, wer seinen Fans mit seiner Experimentierfreude mehr abverlangt.
Auf „Utopia“(Embassy Of Music/Warner ) zaubert Björk für sie typische Klänge hervor – auch mit ihrer großartigen, ein breites Spektrum umfassenden Stimme. Die vertrackten Songs bestehen aus vielen Schichten.
Schon im Vorfeld der Produktion gründete sie ein aus zwölf Frauen bestehendes Flötenorchester, das hier zum Einsatz kommt. Neben der Flöte wird auch Harfe, Cello und Kontrabass gespielt und im Chor gesungen. Wasser plätschert, Vögel zwitschern, es raschelt und rauscht (siehe „The Gate“, „Utopia“und „Paradisia“). Die Natur hat sie geschickt in ihre abenteuerlichen Songs eingearbeitet, die sie zusammen mit dem venezuelischen DJ und Produzenten Acra und mit der Software Pro Tools komponierte. Manchmal will sie sehr, sehr viel und driftet in schwer durchdringliches Aphex Twin-Terrain ab („Courtship“) oder schlägt zig Haken („Sue Me“). Doch unterm Strich sind die zweifelsohne wundersamen
Die Isländerin Björk gilt nicht nur musikalisch als Paradiesvogel.
Klangexperimente als durchweg gelungen zu bezeichnen.
Mit den Worten „Hey, erinnert ihr euch an mich? Ich habe die letzte Zeit wie verrückt gearbeitet.“, die in „To The Moon And Back“zu hören sind, meldete sich Björks Kollegin Fever Ray zuletzt zurück. Seit ihrem spannenden selbstbetitelten Debüt aus dem Jahr 2009 hatte sie mit ihrem Bruder Olof Dreijer wieder an The Knife gearbeitet und zwei Studioalben veröffentlicht. So recht glauben wollte keiner ihrer Fans an ein Fever-Ray-Comeback.
Umso erfreulicher, dass sie doch zurückkehrte.
Waren die Songs auf „Fever Ray“schon nicht massenkompatibel, so sind es die auf „Plunge“(Rabid/PIAS/ Rough Trade ) noch weniger. Sie ist einen Schritt in Richtung The Knife gegangen, was heißt: Sie hat sich der Avantgarde noch mehr geöffnet und komplexere Songs als 2009 erschaffen. Auf „Plunge“vermischt sie Electro mit Streichern („Red Trails“) und lässt sich von elektronisch generierten Tribal Drums zu einer Art Techno verleiten
(„IDK About You“).
Ihre treibende bis atmosphärische Musik mit 80erJahre-Flair garniert sie mit teils vulgären, mindestens aber sexuell aufgeladenen Texten („This Country“, „To The Moon And Back“), die einen etwas irritiert zurücklassen. Aber das tut dem Hörgenuss keinen Abbruch, sofern die neue musikalische Ausrichtung nicht als eine zu hohe Hürde empfunden wird.
„Plunge“erschien Ende Oktober in digitaler Form; CD und LP kommen allerdings erst am 23.Februar 2018 in den Handel.
Das erste Soloalbum des schwedischen Ausnahmemusikers Erik Fastén überzeugt auf ganzer Linie
Morrissey „Low In High School“(Etienne Records/BMG Rights/ADA/ Warner) Wenn er nicht ständig irgendeinen Mist verzapfen, bizarre Verschwörungstheorien äußern und seine Anti-EU-Provokationen für sich behalten würde, man könnte Morrissey bedingungslos lieben. Er macht schließlich tolle Musik – wie sein aktuelles, elftes Soloalbum veranschaulicht. Als Künstler ist er ein Sympathieträger, als Mensch leider weniger. Werk und Künstler zu trennen, fällt hier aber zum Glück wesentlich leichter als im Fall des Schauspielers Kevin Spacey.
Nerina Pallot: „Stay Lucky“(Idaho Records/ Rough Trade) Die Wahl-Londonerin hat mit ihrem sechsten Album vieles richtig gemacht: zum Beispiel, dass sie das meiste selbst spielte, den Rest aber der Tourband von Michael Kiwanuka überließ. Zudem hat sie das Werk für ihr eigenes Label produziert. Allemal geriet es zum gediegensten, gelassensten, hübschesten Mainstream-Soul-Pop des Herbstes.