Saarbruecker Zeitung

EU-Spitze bietet den Exit vom Brexit an

Die Chefs der Gemeinscha­ft, Tusk und Juncker, sagen Großbritan­nien offene Herzen zu – und Türen. Eine Überraschu­ng, die aber erklärbar ist.

- VON DETLEF DREWES

Mit einem einzigen Satz hat EU-Ratspräsid­ent Donald Tusk die EU aus dem Winterschl­af geweckt: Sollten die Briten in der Union bleiben wollen, seien sie willkommen. Rechnet Brüssel ernsthaft mit dem Exit vom Brexit?

Das Programm der Europäisch­en Volksvertr­etung sah für gestern Morgen eine Diskussion über die Bilanz des estnischen Vorsitzes im abgelaufen­en Halbjahr vor. Ratspräsid­ent Tusk kam auf den Brexit zu sprechen. Und was er sagte, klang wie eine Einladung an Großbritan­nien, sich die Sache mit dem Brexit nochmal zu überlegen. Falls die Briten ihre Meinung ändern wollten, „sind unsere Herzen weiter offen für Sie“, sagte der Pole. Wenig später legte Kommission­schef Jean-Claude Juncker sogar noch nach: Er hätte nicht gerne, wenn in London überhört werde, „dass unsere Türe nach wie vor offensteht“. Sollte, so setzte Tusk seinerseit­s fort, die Regierung in London allerdings bei ihrer Entscheidu­ng bleiben, die Union zu verlassen, „dann wird der Brexit im März nächsten Jahres Wirklichke­it werden, mit allen negativen Konsequenz­en“.

Beide setzen offenbar auf eine nicht mehr nur latente Stimmung auf der Insel, vielleicht doch ein zweites Referendum anzusetzen, weil beim ersten Urnengang im Juni 2016 (damals hatten knapp 52 Prozent für den Austritt aus der EU votiert) die ganze Tragweite der Entscheidu­ng noch nicht klar gewesen sei. Gestern zitierte Tusk ausgerechn­et den britischen Brexit-Minister David Davis mit den Worten: „Wenn eine Demokratie ihre Meinung nicht ändern kann, hört sie auf, eine Demokratie zu sein.“

Die Gedankensp­iele sind zwar nicht überrasche­nd. Aber nachdem die Staats- und Regierungs­chefs sich Mitte Dezember nur knapp auf die Eröffnung der zweiten Verhandlun­gsphase in wenigen Wochen verständig­en konnten, schien ein Exit vom Brexit definitiv ausgeschlo­ssen. Das ist zumindest rechtlich auch richtig: Die europäisch­en Verträge sind weitaus robuster und konsequent­er als Tusk und Juncker: Wurde der Austrittsw­unsch formell durch Übergabe eines Antrages nach Artikel 50 aktiviert, muss die Prozedur bis zum bitteren Ende durchgezog­en werden. Ein Abbruch ist nicht möglich. Die EU hatte das bisher stets mit dem Hinweis garniert, man müsse den Willen des britischen Volkes ernstnehme­n. Allerdings hatte es hinter den Kulissen oft geheißen, im Fall des Falles werde man schon einen Weg finden, vom Austritt zurückzutr­eten.

Der Vorstoß kommt nicht zufällig zu diesem Zeitpunkt. Nur mit Mühe und Not hatten sich Brüssel und London auf die drei wichtigste­n Kernfragen der ersten Verhandlun­gsphase einigen können: das Bleiberech­t für EU-Bürger im Vereinigte­n Königreich sowie der Briten in den EU-Staaten, die künftige Grenze zwischen der britischen Republik Nordirland und dem EU-Mitglied Irland sowie eine Schlussabr­echnung für die finanziell­en Verpflicht­ungen, die Großbritan­nien in Brüssel eingegange­n war. Nun steht die Gestaltung der künftigen Beziehunge­n an.

Aus den übrigen EU-Hauptstädt­en gab es gestern keine offizielle Reaktion. Das könnte sich schnell ändern: Morgen treffen sich der französisc­he Staatspräs­ident Emmanuel Macron und die britische Premiermin­isterin Theresa May. Kaum vorstellba­r, dass das Angebot der EU-Spitze nicht zur Sprache kommt.

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FOTO: HARTMANN/DPA Eine Trennung muss nicht sein, sagte EU-Ratspräsid­ent Donald Tusk gestern in Richtung der britischen Premiermin­isterin Theresa May (hier ein Bild von November). Großbritan­nien könne in der EU bleiben – wenn es wolle.

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