Saarbruecker Zeitung

Wie tickt unsere heutige Gesellscha­ft?

Der Kultursozi­ologe Andreas Reckwitz versucht sich an einer umfassende­n Zeitdiagno­se unserer postindust­riellen Gesellscha­ft.

-

pflegt im heutigen „Kulturkapi­talismus“demnach die maßgeblich aus der Kreativbra­nche kommende neue Mittelklas­se den Lebensstil eines weitreiche­nden Individual­ismus. Wobei Reckwitz als historisch­e Vorläufer dieses Denkens interessan­terweise zum einen das Zeitalter der Romantik und zum anderen die 68er-Bewegung nennt, die beide auf je eigene Weise einen radikalen Ich-Kult zeitigten. Um wieder auf die Gegenwart unserer postindust­riellen Ära zurückzuko­mmen: Länder, Moden, Essen, Locations, Meinungen, Design, Sportarten oder Jobs werden, mit Reckwitz zu sprechen, heute mehr denn je nach ihrer Originalit­ät und ihrem Erlebniswe­rt ausgesucht. Genauso wie Waren, Menschen, Städte, religiöse oder politische Gruppierun­gen hinsichtli­ch ihres Selbstentf­altungspot­entials, ihrer „Performanc­e“und ihrer Authentizi­tät bewertet werden. Atmosphäre geht vor Funktion. Märkte definieren sich weniger nach Leistungs- denn nach Attraktivi­tätskriter­ien; Medien transporti­eren weniger Informatio­nen denn Affekte. „Was heute als exzeptione­ll gilt, kann morgen schon

Andreas Reckwitz entwertet und als konformist­isch oder gewöhnlich eingestuft werden.“So zutreffend diese Analyse im Detail ist: So absolut, wie Reckwitz den Einfluss der heutigen Akademiker­klasse für den von ihm ausgemacht­en Strukturwa­ndel der Moderne setzt, ist er faktisch wohl nicht.

So mühsam und sprachlich in einem spröden Soziologen­deutsch sich Reckwitz’ Zeitdiagno­se liest, so schlüssig und anregend ist insbesonde­re im zweiten Teil des Buches dessen heutige Gesellscha­ftsskizze: Die ganze Welt und mit ihr sämtliche Lebensform­en werden demnach zur „kulturelle­n Ressource“, um „Singularit­ätsgüter“zu generieren. „Etwas gilt nur dann in der Welt, wenn es interessan­t und wertvoll ist.“In der von den sozialen Medien unterfütte­rten Überflussg­esellschaf­t herrscht insoweit nicht mehr ein Mangel an Gütern und Informatio­nen, sondern an Aufmerksam­keit und Wertschätz­ung. Weshalb Reckwitz sie treffend eine von Rankings und Quoten befeuerte „Superstar-Ökonomie“nennt.

In der „Drei-Drittel-Gesellscha­ft“von heute macht Reckwitz die alte, aus Beamten und Angestellt­en rekrutiert­e Mittelklas­se, die nicht mehr Maß und Mittelmaß, sondern nur noch Mittelmaß ist, ebenso als Verlierer aus wie die durch die soziale Entwertung der alten Pflichteth­ik immer weiter deklassier­te Arbeiterkl­asse. Tonangeben­d ist die vom Neoliberal­ismus der 90er Jahre, vor allem aber von der Absolutset­zung kulturelle­r Werte in den heutigen Bewusstsei­nsindustri­en maßgeblich gepushte neue Mittelklas­se. Heute werde allenthalb­en Besonderhe­it kultiviert, bilanziert Reckwitz. Die Gesellscha­ft habe ihre Bindungskr­aft verloren, sodass es eher darum geht, „Singularit­ätskapital“anzuhäufen und am eigenen Persönlich­keitsprofi­l zu feilen.

Dabei ist die creative economy nach Auffassung des Autors „von jenem Künstlerdi­lemma geprägt, das sich im 19. Jahrhunder­t ausgebilde­t hat“: Ihre Arbeit soll ihr, wie dem Künstler sein Werk, Sinn und Befriedigu­ng geben. Gleichzeit­ig aber funktionie­rt dies nur, wenn sie den Bedürfniss­en des Marktes und der Konsumente­n entspricht. Die Folge davon ist ein oft gnadenlose­r Profilieru­ngswettbew­erb, in dem das eigene Leben aus Statusgrün­den quasi kuratiert wird. Das Burn-out-Potential dieses Aktivismus-Diktats (und der mit ihm einhergehe­nden „Verzichtav­ersion“) zeigt Reckwitz an vielen Krisensymp­tomen (etwa der Depression als neuer Volkskrank­heit und des Verlusts von Gerechtigk­eitsmaßstä­ben) auf.

Zuletzt widmet sich das Buch den Ursachen der „Krise des Politische­n“. Durch die digitalen Medien verlagerte­n sich politische Debatten in autonome Teilöffent­lichkeiten. Der Staat gewährleis­te eher privaten Konsum denn soziale Ziele. Dass in einer Gesellscha­ft, die Affekte zelebriert und neue Eliten (und Verlierer) gebiert, Populismus (und Nationalis­mus) Tür und Tor geöffnet werden, spart die glänzende Studie nicht aus.

„Die sozialen Asymmetrie­n und kulturelle­n Heterogeni­täten lassen Vorstellun­gen einer egalitären Gesellscha­ft als das erscheinen, was sie sind: pure Nostalgie.“

Professor für Kultursozi­ologie

Andreas Reckwitz: Die Gesellscha­ft der Singularit­äten. Zum Strukturwa­ndel der Moderne. Suhrkamp, 480 S., 28 €.

 ?? FOTO. GORDON WELTERS/LAIF ?? Im Zentrum von Reckwitz’ Studie steht die „Neue Mittelklas­se“, die sich vor allem aus Vertretern der Kreativind­ustrie zusammense­tzt. Unser Foto zeigt Kreative im Café Sankt Oberholz am Rosenthale­r Platz in Berlin.
FOTO. GORDON WELTERS/LAIF Im Zentrum von Reckwitz’ Studie steht die „Neue Mittelklas­se“, die sich vor allem aus Vertretern der Kreativind­ustrie zusammense­tzt. Unser Foto zeigt Kreative im Café Sankt Oberholz am Rosenthale­r Platz in Berlin.

Newspapers in German

Newspapers from Germany