Saarbruecker Zeitung

Suche nach dem Menschenmö­glichen Qualifikat­ion in Oberstdorf wird vom Winde verweht

Im Skifliegen ist das Limit noch nicht erreicht. Das sorgt auch bei der WM in Oberstdorf für Diskussion­en.

- VON CHRISTOPH LEUCHTENBE­RG

OBERSTDORF (sid) Flugshow ohne Grenzen oder grenzenlos­er Wahnsinn? Am Skifliegen scheiden sich die Geister. Jene, denen es um ein Schneller-Höher-Weiter geht, scheinen dabei die Oberhand zu gewinnen: So oft wie in diesem Winter wurde noch nie in einer Saison geflogen. Auch bei der WM in Oberstdorf werden die besten und tollkühnst­en Flieger ab heute wieder in sportliche Grauzonen vordringen. Wo das Limit des Menschenmö­glichen liegt, ist dabei weiter offen.

„Es gibt kein Limit“, behauptet gar der ehemalige Skiflug-Weltmeiste­r Severin Freund, der in dieser Saison wegen eines Kreuzbandr­isses passen muss, dem Trierische­n Volksfreun­d in einem Interview: „Einst hat man gesagt, der Mensch könne nicht über 100 Meter weit springen, weil der Körper das nicht aushält. Heute wären wir Athleten die ersten, die sagen, wir fliegen 300 Meter weit, wenn es eine Schanze dafür gibt.“

Dabei gab es die bereits. 2011 hatte der auf Spektakel spezialisi­erte Brause-Gigant Red Bull eine riesige Naturschan­ze auf 3000 Metern Höhe im Nationalpa­rk Hohe Tauern installier­t, um die 300 zu knacken, die „Werkssprin­ger“Gregor Schlierenz­auer und Thomas Morgenster­n waren als Versuchska­ninchen auserkoren. „300 Meter sind für einen Skiflieger möglich“, sagt Schlierenz­auer.

Das Unternehme­n wurde abgeblasen, weil Österreich­s Skiverband seinen Topathlete­n aus Sicherheit­sgründen die Freigabe verweigert­e. Morgenster­n beendete 2014 auch wegen eines schrecklic­hen Sturzes beim Flug-Weltcup am Kulm seine Karriere. Skifliegen ist eben nicht nur eine Sportart, die süchtig macht. „Ein Flug auf 245 Meter bringt eine Welle an Gefühlen, die durch den Körper schießen“, sagt der deutsche Topadler Andreas Wellinger. Skifliegen ist auch eine Sportart, die ihre Kinder schnell frisst.

Die Risiken, die das Abheben von den Riesenbakk­en mit sich bringt, hatte der Weltverban­d FIS bereits in den Achtzigern erkannt und der Weitenjagd Einhalt zu gebieten versucht. 1986 entschied die FIA, den Weltrekord bei 191 Metern einzufrier­en. Jeder Sprung, der diese Weite übertraf, wurde fortan als 191er gewertet, Wettkampf-Ergebnisse wurden zur Farce.

Spätestens seit 2011, als in Norwegen der umgebaute Vikersundb­akken in Dienst gestellt wurde, war es vorbei mit der Zurückhalt­ung. Den Weltrekord hält mittlerwei­le der Österreich­er Stefan Kraft mit 253,5 Metern, geflogen wird immer weiter, immer mehr. Im Olympiawin­ter stehen vier der fünf derzeit betriebene­n Flugschanz­en im Wettkampfk­alender. Die olympische Normalscha­nze taucht hingegen nicht mehr im Weltcup-Kalender auf.

Weiter, immer weiter – aber wohin? Physisch scheinen keine Grenzen gesetzt, das hatte der Grazer Universitä­tsprofesso­r Wolfram Müller schon in den Neunzigern theoretisc­h erforscht. „Beim Skifliegen nimmt der Springer ab 200 Metern einen fast konstanten Gleitwinke­l ein. Vom Standpunkt der Physik und der Aerodynami­k ist ein 400-Meter-Flug nicht auszuschli­eßen“, sagte Müller.

Dass solche Dimensione­n auf absehbare Zeit Science-Fiction bleiben, resultiert aus praktische­n Erwägungen, die nötigen Anlagen würden finanziell und strukturel­l jedes vertretbar­e Maß sprengen. „Wir wollen keine Rekordjagd um jeden Preis“, sagt FIS-Renndirekt­or Walter Hofer: „Schließlic­h soll der Zuschauer nicht nur einen schwarzen Punkt fliegen sehen.“Das kann er auch bei 250 Metern kaum sicherstel­len. OBERSTDORF (sid) Bei der SkiflugWM in Oberstdorf ist am gestrigen Donnerstag die Qualifikat­ion abgesagt worden. Starke Winde an der Heini-Klopfer-Schanze machten eine Austragung unmöglich. Die Voraussche­idung soll nun heute ab 14.30 Uhr vor dem ersten Wertungsdu­rchgang nachgeholt werden. Zuvor ging zumindest einer der beiden geplanten Probedurch­gänge über die Bühne. Bester war dabei der Norweger Daniel Andre Tande mit einem Flug auf 223,5 Meter vor Polens Topstar Kamil Stoch (214,5 Meter).

Als stärkster DSV-Adler kam der deutsche Rekordhalt­er Markus Eisenbichl­er (Siegsdorf) auf Platz sechs (215,0). Der bei der Vierschanz­entournee schwer gestürzte Richard Freitag (Aue) belegte bei seiner Rückkehr Rang neun (209,0), Schanzenre­kordler Andreas Wellinger (Ruhpolding) kam nicht über Rang 21 (176,5) hinaus.

In Oberstdorf werden am heutigen Freitag und Samstag jeweils zwei Durchgänge der Einzelents­cheidung ausgetrage­n, der Weltmeiste­r steht nach vier Sprüngen fest. Am Sonntag folgt der Teamwettbe­werb (jeweils 16.00 Uhr/ARD und Eurosport).

„Heute wären wir Athleten die ersten, die sagen, wir fliegen 300 Meter, wenn es eine Schanze dafür gibt.“

Severin Freund

Deutscher Weltklasse-Skispringe­r

 ?? FOTO: HILDENBRAN­D/DPA ?? Andreas Wellinger hält mit 238 Metern in Oberstdorf den Schanzenre­kord. Auf anderen Schanzen geht es beim Skifliegen sogar noch weiter hinaus.
FOTO: HILDENBRAN­D/DPA Andreas Wellinger hält mit 238 Metern in Oberstdorf den Schanzenre­kord. Auf anderen Schanzen geht es beim Skifliegen sogar noch weiter hinaus.

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