„Alles was ich immer wollte – war alles“
Wie sie wurde, was sie ist: Die Band Tocotronic pirscht sich auf ihrem zwölften Album „Die Unendlichkeit“an ihre eigene Geschichte heran.
eine strenge Abhandlung über mathematische, philosophische oder theologische Fragen zum Thema befürchtet, der kann aufatmen. Zum 25-jährigen Bandjubiläum beschenken sich Dirk von Lowtzow, Jan Müller, Arne Zank und Rick McPhail mit einer vertonten Festschrift zur eigenen Geschichte.
Es sind zwölf autobiografisch durchfärbte Erinnerungsstücke, aus einer individuellen Perspektive zwar, die aber einen allgemeinen Anspruch erhebt. Denn eine nicht endend wollende Wut, Trauer, Demütigung, Verzweiflung oder Sehnsucht sind insbesondere Privilegien des Heranwachsens, denen nicht nur Klein-Carlo oder Klein-Dirk in der deutschen Provinz ausgeliefert waren. Wie sie wurden, was sie sind, davon erzählt das zwölfte Album wie in einem „Coming Of Age“-Roman, Kapitel für Kapitel, als ein Leiden in Fortsetzungen. Es beginnt in der Kindheit, wo sich das Karussell aus Angst und Einsamkeit zu drehen beginnt und melancholische Streicher und Synthesizer die Grundstimmung vorgeben („Tapfer und grausam“). Es geht weiter in der Jugend, mit „Manic Depression im Elternhaus“und dem geschenkten, lauten Freund („Electric Guitar“); aggressiver Punkrock vertont die Bedrohungen für den, der sich anders kleidet, sich anders gibt („Hey Du“).
Nach der ersten großen Liebe in „Ich lebe in einem wilden Wirbel“kommt die erste große Stadt, von Lowtzows Umzug nach Hamburg aus der „Schwarzwaldhölle“, das dazugehörige Jahr „1993“wird mit Vocoderstimme verkündet, während es im Hintergrund kracht und rumpelt. Dann die erste große Verlusterfahrung mit dem Sterben eines Freundes („Unwiederbringlich“), eingeläutet von einem monotonen Minimalismus, der erst nach knapp zwei Minuten durchbrochen wird durch die Ankündigung des Unausweichlichen mit dunklem, tiefem Timbre. Später wird das Weiterziehen nach Berlin, ein liebestoller Akt der Errettung und Erlösung, in einer angemessen ergriffenen, andächtigen Ballade zelebriert („Ausgerechnet du hast mich gerettet“). Der letzte Song liefert unter viel Getöse eine Maxime als Resümee: „Alles was ich immer wollte – war alles“und eine Reflexion über das Vergangene, Gegenwärtige, Zukünftige. Und was bleibt nun?
Die Lebensgeschichte des Sängers als prägender Teil der Bandgeschichte wird mit Musik unterlegt, die versucht, Einflüsse aus der jeweiligen Zeit aufzugreifen, und so eine Art authentisches, gewissermaßen doppelt beglaubigtes Dokument des eigenen Werdens zu schaffen. Die erste Hälfte des Albums thematisiert von Lowtzows Leben ohne Tocotronic, die zweite Hälfte sein Leben mit Tocotronic. Ein Bandleben entspricht in diesem Falle fast einem halben Menschenleben: das prägt, beide Seiten. Ein Leben ohne Tocotronic ist deshalb wohl möglich, aber völlig sinnlos.
Tocotronic: Die Unendlichkeit (Vertigo Berlin/Universal Music).