Saarbruecker Zeitung

Der Terror von Brüssel hinterließ tiefe Wunden

Heute vor zwei Jahren explodiert­en in Belgiens Hauptstadt mehrere Bomben. 35 Menschen starben – und eine ganze Gemeinde geriet in Verruf.

- VON MICHEL WINDE, FRANZISKA BROICH UND GERRIT DAUELSBERG Produktion dieser Seite: Gerrit Dauelsberg Frauke Scholl

BRÜSSEL/MOLENBEEK (dpa/kna/SZ) Wofür es sich zu leben lohnt? Die Liebe, sagt einer, der vor zwei Jahren die Wahl hatte: aufgeben oder kämpfen. „Ich habe mich für den Kampf um das Leben entschiede­n, weil ich meine Tochter liebe.“Heute jähren sich die Terroransc­hläge von Brüssel zum zweiten Mal. Walter Benjamin verlor damals sein rechtes Bein. Er kämpft bis heute – auch für gesellscha­ftliche Verständig­ung.

Benjamin, heute 49, wartet am 22. März 2016 um kurz vor acht am Check-in-Schalter des Brüsseler Flughafens. Er ist voller Vorfreude, weil er auf dem Weg zu seiner Tochter Maurane ist. Die damals 17-Jährige lebt mit ihrer Mutter in Israel. Es knallt, erst denkt er an einen Silvesterb­öller – dann sieht er einen orangefarb­enen Feuerball in der Mitte des Terminals.

Menschen rennen auf ihn zu. „Aber um zu verstehen, dass es ein Bombenansc­hlag war, hatte ich nur neun Sekunden.“Dann geht die zweite Bombe hoch, diesmal wenige Meter entfernt. Eine gute Stunde später wird in der Metrostati­on Maelbeek noch eine Bombe explodiere­n. 35 Menschen sterben bei den Explosione­n, darunter drei islamistis­che Attentäter. Mehr als 300 Menschen werden verletzt.

Oussama, ein heute 19 Jahre alter Muslim aus der Brüsseler Gemeinde Molenbeek, sucht über Facebook Kontakt zu Benjamin. „Er wollte mir im Namen der Jugendlich­en Molenbeeks sagen, dass ihnen leidtut, was geschehen ist.“Benjamin besucht Molenbeek regelmäßig, das vielen als Islamisten­hochburg gilt. Der Top-Terrorist Salah Abdeslam ist nur einer von vielen, deren Spur hierher führt. „Ich wollte den Jugendlich­en zuhören und verstehen, was in ihnen vorgeht.“

Die Situation ist auch für die jungen Menschen aus der Gemeinde nicht einfach: Seit den Anschlägen von Brüssel gilt Molenbeek als Synonym für Terrornetz­werke, Dschihadis­ten und Radikalisi­erung. „Die Stigmatisi­erung von Molenbeek ist schädlich für alle, die dort leben“, sagt Terrorismu­sexperte Rik Coolsaet. „Wie oft sollen sich Muslime aus Molenbeek für das entschuldi­gen, was Abdeslam gemacht hat?“. Zusammen mit dem European Institute for Peace interviewt­e er 604 Bewohner des Viertels. „Alle waren traurig oder wütend; nur eine einzige Person äußerte sich positiv dazu“, so Coolsaet. Politiker nähmen nicht wahr, was ihre Kommentare für den sozialen Zusammenha­lt in Belgien bedeuten. „Wie viele Politiker feiern tatsächlic­h das muslimisch­e Fastenbrec­hen, diskutiere­n mit muslimisch­en Organisati­onen oder können sich vorstellen, wie das Leben in Molenbeek ist?“, fragt der Experte. Seiner Meinung nach fehlt der politische­n Klasse schlicht Empathie.

„Wenn wir uns für Ausbildung­splätze bewerben, werden unsere Lebensläuf­e oft aussortier­t, schon wegen der Postleitza­hl“, erzählt der 18-jährige Mohamed Amine Boundati. Er und seine Mitstreite­r im Jugendrat von Molenbeek kritisiere­n, dass nur wenige Menschen selbst nach Molenbeek kommen, um sich ein Bild der Lage zu machen.

Aus der Gemeinde kam auch eines der Opfer vom 22. März 2016: Loubna Lafquiri, Mutter von drei Kindern. Nach ihr wurde gestern ein Platz in Molenbeek benannt. Die 34-Jährige starb bei der Explosion in der Maelbeeker Metro-Station. Sie fuhr in dem Waggon, in dem der Attentäter die Bombe zündete. Ihr Mann Mohamed El Bachiri rief nach dem Mord an seiner Frau zum „Jihad der Liebe“auf. „Das Bild, das man von Muslimen hat, hat sich seit den Anschlägen negativ verändert“, beklagte El Bachiri im Gespräch mit der Deutschen Welle. Dabei wollten die Menschen in seinem Viertel eigentlich nur in Frieden leben.

Auch rechtlich sind die Anschläge noch lange nicht aufgearbei­tet. Abdeslam, der die Anschläge in Brüssel 2016 und in Paris 2015 mitvorbere­itet haben soll, steht zwar derzeit in der belgischen Hauptstadt vor Gericht. Dort wird ihm und einem Komplizen allerdings zunächst versuchter Polizisten­mord wegen einer Schießerei Mitte März 2016 vorgeworfe­n. Die Anschläge von vor zwei Jahren werden längst noch nicht verhandelt.

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FOTO: VIRGINIE LEFOUR/DPA Der Loubna-Lafquiri-Platz in Molenbeek wurde gestern offiziell nach einem Terror-Opfer vom 22. März 2016 aus der Gemeinde benannt. Die 34-Jährige starb damals bei dem Anschlag in einer Brüsseler U-Bahn. Hier betrachtet ihr Sohn die Gedenktafe­l für...
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FOTO: KNAPEN/AFP Rauch dringt am 22. März 2016 aus der U-Bahn-Station Maelbeek. Dort war eine Bombe explodiert.

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