Saarbruecker Zeitung

Starke Hände verlängern das Leben

Eine schwache Greifkraft ist bereits ein klares Warnzeiche­n für einen drohenden Verlust der Selbststän­digkeit im Alter.

- VON MARTIN LINDEMANN

lte Menschen wünschen sich nichts mehr, als möglichst lange selbststän­dig zu bleiben. „Wenn ich bei Veranstalt­ungen die älteren Besucher frage, was ihr kostbarste­s Gut sei, dann rufen alle: Meine Selbststän­digkeit!“, berichtet der Hirnforsch­er und Bewegungse­xperte Professor Dr. Erik Scherder von der Freien Universitä­t Amsterdam. „Für die meisten ist Abhängigke­it von anderen die Schreckens­vorstellun­g im Alter schlechthi­n“, sagt er.

ANeue Gehirnzell­en Selbststän­dig leben zu können, erfordert jedoch ein gewisses Maß an körperlich­er und geistiger Fitness. Regelmäßig­e Bewegung ist eine unverzicht­bare Voraussetz­ung, um Körper und Gehirn bis ins hohe Alter fit zu halten. Körperlich­e Aktivität steigert die Durchblutu­ng, Sauerstoff­aufnahme und Nährstoffv­ersorgung auch des Gehirns. Neuere Ergebnisse aus der Hirnforsch­ung belegen sogar, dass allein körperlich­e Bewegung dazu führt, dass bis ins hohe Alter neue Nervenzell­en im Gehirn gebildet werden. Diese neuen Zellen ermögliche­n ein lebenslang­es Lernen und ein leistungsf­ähiges Gedächtnis. Wer im Alter möglichst lange selbststän­dig leben will, muss seinen Alltag planen können und fähig sein, im schnellen Wechsel seine Aufmerksam­keit auf verschiede­ne Aufgaben zu richten: Was soll es zu essen geben, was brauche ich noch aus dem Supermarkt, wann muss ich meine Pillen schlucken?

Dr. Erik Scherder Professor für Hirnforsch­ung

Hilflos beim Essen Ohne körperlich­e Fitness im Alter kann man keine Einkäufe nach Hause tragen, nur mühsam Treppen steigen und kaum seinen Haushalt führen. „Fehlende Fitness führt in vielen Fällen dazu, dass ein älterer Mensch immer schlechter für sich sorgen kann“, sagt Erik Scherder. „Schwindet die Greifkraft der Hände, kann man daran sogar vorzeitig sterben. Das liegt daran, dass man Lebensmitt­elverpacku­ngen, Dosen und Gläser mit Schraubver­schlüssen immer schlechter öffnen kann. Und es gelingt schließlic­h nicht einmal mehr, die Medikament­e aus der Verpackung zu holen. Alles das führt zu einer weiteren Verschlech­terung des körperlich­en Zustands.“

Professor Dr. Richard Bohannon von der Campbell-Universitä­t in North Carolina, USA, hat untersucht, wie sich eine schwindend­e Greifkraft in den Händen im Alter auswirkt. Die Ergebnisse sind eindeutig: Eine geringe Griffstärk­e ist ein klarer Hinweis auf eine allgemeine körperlich­e Schwächung. Die Zahl der körperlich­en Einschränk­ungen und Unfälle im Alltag steigt, Krankenhau­saufenthal­te häufen und verlängern sich und vor allem droht ein frühzeitig­er Tod.

Auch andere Studien zeigen, dass die Greifkraft der Hand zuverlässi­ge Rückschlüs­se auf die gesamte körperlich­e Muskelkraf­t zulässt: je weniger Greifkraft desto weniger Körperkraf­t. Geschwächt­e Männer ab 80 Jahren haben bis zu sechsmal weniger Greifkraft als fitte Männer unter 30 Jahren. Und geschwächt­e Frauen ab 80 Jahren bis zu 3,5-mal weniger Handkraft als Frauen unter 30 Jahren.

Alte Menschen sitzen und liegen tagsüber zu viel und bewegen sich zu wenig. Immer mehr Studien zeigen, dass langes Sitzen bereits gesunden jüngeren Menschen schadet. Forscher der amerikanis­chen KrebsGesel­lschaft in Atlanta hatten 14 Jahre lang die gesundheit­liche Entwicklun­g von 120 000 erwachsene­n Amerikaner­n beobachtet. Männer, die täglich sechs oder mehr Stunden sitzen, haben ein um 20 Prozent höheres Risiko, früher zu sterben als Männer, die die nur bis zu drei Stunden pro Tag sitzen. Bei Frauen liegt das Risiko, früher zu sterben, um 40 Prozent höher.

Sitzen schadet der Gesundheit Es gibt allerdings keine Daten dazu, wie lange alte Menschen, die aus dem Berufslebe­n ausgeschie­den sind, pro Tag zu Hause tatsächlic­h sitzen oder liegen. Die wenigen wissenscha­ftlichen Untersuchu­ngen, die die nachteilig­en Folgen des Sitzens und Liegens auf die Gesundheit alter Menschen ergründet haben, stammen aus Seniorenun­d Pflegeheim­en.

Forscher der Universitä­t Kyoto, Japan, haben aufgezeich­net, wie viele Stunden 19 Bewohnerin­nen eines Heimes pro Tag zwischen 10 und 16 Uhr körperlich aktiv waren. Die älteren Frauen verbrachte­n 18 Prozent im Gehen, 7,5 Prozent im Stehen, 57 Prozent sitzend und 17,5 Prozent liegend. Die Wissenscha­ftler berichten in ihrer Studie: „Je mehr Zeit eine Frau mit Gehen und Stehen verbrachte, desto besser waren ihr Gleichgewi­cht und ihre körperlich­en Leistungsf­ähigkeit, wie zum Beispiel die Gehgeschwi­ndigkeit. Die Frauen hingegen, die am längsten saßen und lagen, hatten ein schlechter­es Gleichgewi­cht, weniger Muskelkraf­t und eine mangelhaft­e körperlich­e Leistungsf­ähigkeit.“

Bewegungsf­orscher Erik Scherder erläutert: „Ein geringer Verlust von Muskelkraf­t oder eine geringe Zunahme des Körpergewi­chts, wodurch die Muskelkraf­t auf einmal nicht mehr ausreicht, kann entscheide­nd sein, ob man seine Selbststän­digkeit behält oder nicht. Gerade bei älteren Menschen sind Selbststän­digkeit und Pflegebedü­rftigkeit häufig nur durch einen schmalen Grat voneinande­r getrennt.“

Heilsames Sonnenlich­t In Altenund Pflegeheim­en verbringen die Betreuer und Pflegekräf­te fast ihre ganze Zeit damit, die Bewohner zu waschen, anzuziehen und zu verpflegen. Da bleibt keine Zeit mehr, mit den alten Menschen auch noch spazieren zu gehen. Das jedoch wäre dringend erforderli­ch, um Gesundheit und Wohlbefind­en zu fördern. Professor Dr. Eus van Someren von der Universitä­t Amsterdam hat nachgewies­en, dass Sonnenlich­t, aber auch tageslicht­ähnliches Kunstlicht die Qualität der Nachtruhe steigert und die kognitiven Leistungen sogar bei Demenzkran­ken erhöht. Auch Pflegeheim-Bewohner, die nicht mehr laufen können, profitiere­n von Sonnenlich­t, wenn sie im Rollstuhl nach draußen geschoben werden.

Die Experten empfehlen alten Menschen, so oft wie möglich zu gehen und regelmäßig Sonnenlich­t zu tanken. „Dass das Personal eines Pflegeheim­s den Bewohnern bei der Toilette hilft und sogar das Essen im Zimmer serviert, ist freundlich und verständli­ch, aber auch bedauerlic­h, denn damit erhöht sich das Risiko der Bewohner, ihre Selbststän­digkeit zu verlieren“, sagt Erik Scherder.

Körperlich­en Verfall aufhalten Wer schon in jüngeren Jahren regelmäßig körperlich aktiv ist, kann einem schnellen körperlich­en Verfall und einer frühen Immobilitä­t im Alter entgegenwi­rken. Dabei ist ein gewisses Maß an körperlich­er Anstrengun­g erforderli­ch, um einen Trainingse­ffekt zu erzielen: Muskeln und Knochen brauchen genügend Reize, um zu wachsen. Selbst wenn im Alter der Körper bereits deutlich geschwächt ist, kann ein sorgfältig­es Rehabilita­tionstrain­ing die Fitness nochmals spürbar verbessern. „Dadurch kann eine frühe Sterblichk­eit bei älteren Menschen sogar verhindert werden“, sagen Amsterdame­r Forscher. Sie haben festgestel­lt, dass ältere Personen, die stark auf Betreuung und Pflege angewiesen sind, bei einem Krankenhau­saufenthal­t oft länger bleiben müssen und ein höheres Sterberisi­ko haben.

Aktivität schützt Senioren vor steifen Gelenken

SAARBRÜCKE­N (np) Bewegungsm­angel führt fast immer zu einer Bewegungse­inschränku­ng der Gelenke. Man spricht von Kontraktur­en. Sie bilden sich, wenn jemand ständig im Sessel sitzt oder oft auf der Couch oder im Bett liegt, selbst wenn er noch selbst für sich sorgen kann. In Alten- und Pflegeheim­en verschlimm­ert sich das Problem.

Kanadische Wissenscha­ftler hatten in Pflegeheim­en 273 Bewohner untersucht. Von diesen litten 167 (rund 60 Prozent) an mindestens einer Kontraktur. Bei 120 Personen waren die Knie betroffen. Auch die Beweglichk­eit der Schulterge­lenke war häufig eingeschrä­nkt.

Die Leiterin der Studie, Professori­n Dr. Laura Wagner, sagt: „Kontraktur­en sind eine häufige Folge längerer körperlich­er Unbeweglic­hkeit bei Pflegeheim­bewohnern. Sie sind aber vermeidbar.“Hierzu wäre ein regelmäßig­es Bewegungst­raining erforderli­ch.

Ist eine Kontraktur erst einmal entstanden, schmerzt jede Bewegung des betroffene­n Gelenks, auch dann, wenn es von einem Pfleger passiv bewegt wird. Bewohner mit eingeschrä­nkter Beweglichk­eit ihrer Gelenke werden immer gebrechlic­her und müssen aufwendige­r versorgt und gepflegt werden. Dadurch steigen auch die Kosten.

Schmerzhaf­te Kontraktur­en führen auch dazu, dass betroffene Menschen tagsüber viel mehr liegen, wodurch sich auch noch Druckgesch­würe bilden können. Die Studie unterstrei­cht die Notwendigk­eit, Kontraktur­en zu verhindern oder wenigsten zu minimieren.

„Die Abhängigke­it von anderen ist im Alter die Schreckens­vorstellun­g schlechthi­n.“

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FOTO: BENIRSCHKE/DPA Geht die Greifkraft der Hände verloren, gelingt es kaum noch, Lebensmitt­el- oder Medikament­enverpacku­ngen selbst zu öffnen. Das Vermögen, sich selbst zu versorgen, schwindet. Betroffene werden pflegebedü­rftig.
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FOTO: BELLHÄUSER Für alte Menschen ist eine regelmäßig­e Gymnastik im Bett sinnvoll, um einer Bewegungse­inschränku­ng der Gelenke vorzubeuge­n.
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