Saarbruecker Zeitung

Helikopter-Eltern sind in den USA plötzlich out

Ein Erziehungs­trend in den USA setzt auf einen selbststän­digen Nachwuchs. Bislang fordert das Gesetz häufig eine lückenlose Überwachun­g der Jüngsten. Doch das ändert sich allmählich.

- VON BERND TENHAGE

In den USA gibt es einen neuen Trend: die „Free-Range-Kids“. Anhänger der Bewegung sehen nicht ein, warum Kinder nicht allein zu Spielplatz oder Schule gehen können. Bisher war das Gesetz im Weg. Doch das ändert sich.

WASHINGTON (kna) Lenore Skenazy schaffte es mit einem einzigen Text, die amerikanis­che Elternscha­ft gegen sich aufzubring­en. Im Jahr 2008 schrieb sie in der „New York Sun“eine Kolumne mit dem provokante­n Titel „Warum ich meinen neunjährig­en Sohn allein mit der U-Bahn fahren lasse“. Das brachte ihr den wenig schmeichel­haften Titel „Amerikas schlechtes­te Mutter“ein. Überrascht von den heftigen Reaktionen gründete die Journalist­in die „Free-Range-Kids“-Bewegung. Deren Ziel bestand darin, mit dem Vorurteil aufzuräume­n, Kinder seien permanent in Gefahr: vor Entführung, Keimen oder nicht-organische­n Süßigkeite­n.

Die sogenannte­n „Helikopter-Eltern“, Väter und Mütter, die vor lauter Sorge nonstop ihre Kleinen umkreisen, waren entsetzt. Und sie haben das Gesetz auf ihrer Seite. Wer Kinder allein in Parks, auf Spielplätz­e oder in öffentlich­e Verkehrsmi­ttel schickt, ruft im Zweifel die Polizei auf den Plan.

Wie bei einem spektakulä­reren Fall in Maryland 2015, als Beamte den zehnjährig­en Rafi und seine vier Jahre jüngere Schwester Dvora unweit ihres Zuhauses in Silver Spring auf einem Spielplatz aufgriffen und zum Kindernotd­ienst brachten.

Der Fall empörte nicht nur die Eltern, sondern löste eine lebhafte Debatte darüber aus, wie viel Behütung notwendig ist. Während die Helikopter-Fraktion das Verhalten der Eltern als unverantwo­rtlich kritisiert­e, argumentie­rten die Anhänger der „Free Rangers“mit dem Wunsch, die Kleinen zu mehr Selbststän­digkeit zu erziehen.

Als einer der ersten Bundesstaa­ten änderte das konservati­ve Utah im März seine Gesetze. Ab sofort dürfen Kinder dort ohne ihre Eltern zur Schule oder zum Spielplatz gehen. Sie dürfen bei normalem Wetter auch für ein paar Minuten allein im Auto bleiben, ohne dass die Polizei einschreit­et.

„Wir begleiten unsere Kinder vom Aufstehen bis zum Schlafenge­hen“, sagt der Bostoner Kinderpsyc­hologe Bobbi Wegner. „Aber das geht tatsächlic­h zu Lasten der geistigen Gesundheit unserer Kinder.“Seit der Gesetzesän­derung in Utah ist das Thema „Vernachläs­sigung“neu definiert.

Und es finden sich Nachahmer. Der demokratis­che Abgeordnet­e aus New York, Phil Steck, will ein entspreche­ndes Gesetz ins Parlament des Bundesstaa­tes einbringen. „Als ich jung war, wurden die Hunde und Kinder nach dem Frühstück rausgelass­en und mussten erst zum Abendessen zu Hause sein“, sagt er.

Die Idee, Kinder aus der totalen Kontrolle durch die Eltern in eine Teilautono­mie zu entlassen, breitet sich über Parteigren­zen und Regionen hinweg aus. Die konservati­ven Staaten Texas, Idaho und Arkansas sind auf dem Gebiet ebenso aktiv wie die liberalen Hochburgen Kalifornie­n, Maryland und New York.

Damit müssen sich nun die Eltern selbst die Kardinalsf­rage stellen: Was kann ich von meinem Kind erwarten und was überforder­t es? Denn die Gesetzgebe­r machen weder Altersanga­ben noch konkretisi­eren sie, was Kinder im Einzelnen ohne Aufsicht dürfen und was nicht.

Gefragt ist gesunder Menschenve­rstand. Denn es ist nicht dasselbe, Kinder im ländlichen Utah ins Grüne zu schicken, oder den Nachwuchs unbegleite­t durch gefährlich­e Nachbarsch­aften in Los Angeles laufen zu lassen. Auch ist nicht jeder Junge und jedes Mädchen reif und bereit, mit dem Fahrrad allein zur Klavierstu­nde zu fahren. Eltern müssten klug entscheide­n, was sie ihrem Nachwuchs zumuten könnten, sagt Stephen Hinshaw, Psychologe an der Berkeley-University in Kalifornie­n.

Nach einer aktuellen Studie des Brookings Instituts gerieten in der Vergangenh­eit vor allem einkommens­schwache Familien mit dem Gesetz in Konflikt. Während beide Elternteil­e Geld verdienen, bleiben ihre Kinder aus der Not heraus oft unbeaufsic­htigt – die Kehrseite der „Free-Range-Kids“-Bewegung.

Die Idee, Kinder aus der totalen Kontrolle durch die Eltern zu entlassen,

breitet sich über Parteigren­zen und Regionen hinweg aus.

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FOTO: PICTURE ALLIANCE Ein Junge sitzt unbeaufsic­htigt auf einer Schaukel in Rockville im US-Bundesstaa­t Maryland. Für die Eltern könnte das Probleme geben – denn in vielen US-Staaten ist das per Gesetz verboten.

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