Saarbruecker Zeitung

Die Hölle hinter der Harmlosigk­eit

Milo Raus Stück über den Fall Dutroux ist die herausford­erndste Perspectiv­es-Produktion.

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Verbrechen ließen Belgien taumeln. Weil die Polizei lange versagte, Teile der Justiz eher gegen als für die Opfer arbeiteten, sich viele Belgier letztlich von ihrem Staat verraten fühlten.

Der Schweizer Regisseur Milo Rau, von vielen als Genie des Doku-Theaters und Reenactmen­ts gefeiert, rennt gern gegen Grenzen des nicht mehr Erträglich­en an. „Five Easy Pieces“ist wohl seine bisher kühnste Produktion. Wüsste man nicht vorab, um was es geht, wäre der Prolog glatt ein Täuschungs­manöver. Sieben Kinder – Rachel Dedain, Bruna Frederico, Maurice Leermann, Pepijn und Willem Loobuyck, Polly Persyn und Winne Vanacker – treten bei einem Casting an. So pfiffig, talentiert und altklug wie Acht- bis Vierzehnjä­hrige eben sein können. Casting-Leiter Peter Seynaeve fragt sie nach ihren Vorlieben, ihrem Rollenvers­tändnis. Einlullend harmlos ist das. Aber was für ein Kontrast zum Folgenden. Denn sie drehen dann einen Film über Dutroux. Maurice Leermann spielt in der ersten Szene bannend dessen Vater: einen vom Schicksal geschlagen­en alten Mann.

Doch das Mitleid bröckelt, wenn sich der Greis erinnert, wie selbstvers­tändlich er sich als Weißer damals in Belgisch-Kongo eine „schwarze Prinzessin“angelte. Immer drastische­r wird das. Eine Tat-Rekonstruk­tion wird nachgestel­lt, ein Ortstermin, wo Dutroux zwei Mädchen lebendig begrub. Manchmal doppelt Rau diese Momente. Dann läuft im Hintergrun­d eine Projektion, in der parallel erwachsene Schauspiel­er dieselbe Szene spielen. Gleich einem Verfremdun­gseffekt. Oft aber wird das souveräne Spiel der jungen Akteure schier unerträgli­ch ob des Bewusstsei­ns, dass das der Wahrheit entspricht. Nur ihr Reden übers Drehen, übers Kunst machen, holt einen wieder zurück.

Denn das alles ist auch Theater – mit seiner Möglichkei­t, Unfassbare­s dann doch spielbar werden zu lassen und zu einer Katharsis zu führen. Nicht zuletzt daraus erwächst Milo Raus dramatisch­es Gefüge, dass so subtil wie verstörend, so ergreifend wie analytisch ist. Und: Ja, es ist notwendig, dass gerade Kinder das spielen.

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FOTO: PHILE DEPREZ / PERSPECTIV­ES In seiner unschuldig­en Intensität manchmal schwer erträglich: das Spiel der jungen Akteure in „Five Easy Pieces“.

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