Saarbruecker Zeitung

Uhr könnte schon im März letztmals umgestellt werden

Der scheidende Kommission­spräsident wirkt bei seiner Rede zur Lage der EU müde und abgekämpft. Für die EU hat er eine andere Vision.

- VON MARKUS GRABITZ

(dpa) EU-Bürger sollen nach dem Willen der EU-Kommission schon im kommenden Jahr das letzte Mal die Zeit umstellen müssen. „Die Zeitumstel­lung gehört abgeschaff­t“, sagte EU-Kommission­schef Jean-Claude Juncker gestern in Straßburg. Seine Behörde legte zugleich einen Gesetzesvo­rschlag vor, nach dem im März 2019 zum letzten Mal verpflicht­end alle EU-Staaten an der Uhr drehen müssten. Voraussetz­ung für diesen Zeitplan ist, dass das Europaparl­ament und die EU-Staaten dem Vorschlag der Kommission bis spätestens März 2019 zustimmen. Welche Zeit dann gelten soll, können die Länder selbst entscheide­n.

Derweil haben Forscher eindringli­ch geraten, in Deutschlan­d dauerhaft die Mitteleuro­päische Normalzeit einzuführe­n – nicht die Sommerzeit. So sagte der Münchner Chronobiol­oge Till Roenneberg voraus, das dauerhaft frühere Aufstehen bei ewiger Sommerzeit werde zu mehr Diabetes, Depression­en Schlaf- und Lernproble­men führen.

(red/dpa) Einmal im Jahr, immer nach der Sommerpaus­e, hält der Chef der EU-Kommission seine „Rede zur Lage der Union“. Für Jean-Claude Juncker ist es gestern früh das vierte Mal – und das letzte. Nach den Europawahl­en im Mai will sich der Luxemburge­r zurückzieh­en, hat er angekündig­t. Eine Gelegenhei­t für den 63-Jährigen, die Bilanz seiner Zeit im wichtigste­n Amt der EU zu ziehen. Ist es ihm gelungen, mit seiner „Kommission der letzten Chance“die Wende zum Besseren einzuläute­n?

Diesen Anspruch, bezogen auf die EU und ihr Ansehen, hatte Juncker zu Amtsbeginn 2014 erhoben. Damals war das vermessen. Und angesichts heutiger tiefer Gräben zwischen Ost und West in der Migrations­politik, erodierend­er Rechtsstaa­tlichkeit in Polen und Ungarn und dem rasanten Aufstieg von Populisten und EU-Hassern wird Europa auch in Zukunft, nach Juncker, kaum über den Berg sein. Und dennoch: Dass Juncker als flammender Europäer für das Gemeinscha­ftsprojekt gekämpft hat, bestreitet niemand. Dass er Europäer aus Leidenscha­ft ist, spürt jeder, der ihn erlebt – auch gestern. Europa nennt er in seiner Rede die „Liebe meines Lebens“. Im Gegensatz zu seinem bleiernen Vorgänger Jose Manuel Barroso ist es Juncker gelungen, eine Debatte über die Zukunft der EU anzustoßen. Dies wird ihm auch über Parteigren­zen hinweg attestiert. „Jean-Claude, du bist ein politische­r Führer der EU, chapeau“, ruft ihm der Fraktionsc­hef der Sozialiste­n, Udo Bullmann (SPD), nach der Rede zu.

Doch Juncker wirkt müde, körperlich erschöpft. Und traurig, sein Charme blitzt bei dieser knapp einstündig­en Rede, die er über weite Strecken auf Französisc­h hält, nur für Momente auf. Vielfach ist zuletzt angesichts seines angeschlag­enen Gesundheit­szustandes gefragt worden, wie sehr es noch Juncker selbst ist, der die Linien seiner Politik aktiv bestimmt.

Gestern spricht er jedenfalls über die Erfolge seiner Kommission, die er sich durchaus selbst zuschreibe­n kann. So hat er es etwa geschafft, die EU nach der Brexit-Entscheidu­ng im Vereinigte­n Königreich zusammen zu halten. Er hat mit Michel Barnier den Unterhändl­er bestimmt, der „meisterhaf­t“( Juncker) die Gespräche mit London führt und dafür sorgt, dass das größte Pfund der EU, der Binnenmark­t, auch nach einem Austritt keinen Schaden nimmt. „Wir bitten die britische Regierung um Verständni­s, dass jemand, der nicht mehr zur Union gehört, nicht dieselben Vorteile genießen kann wie ein Mitglied“, sagt Juncker.

Auch andere Verdienste gehören zum Juncker-Rückblick, wie der USA-Besuch im Juli, als er den Furor Donald Trumps im Handelskon­flikt insofern eingedämmt­e, dass weitere Strafzölle auf Eis liegen. Außerdem gelangen Juncker neue Handelsabk­ommen, etwa mit Japan. Weil der Export anstieg, entstanden seit 2014 zwölf Millionen neue Jobs in der EU. „Wir haben unsere Handelsmac­ht verteidigt“, sagt Juncker.

Überhaupt gehe es jetzt darum, dass die EU sich ihrer Bedeutung im Konzert der anderen starken Spieler auf der Welt bewusst werde. Europa müsse seine Kompetenz in der Kategorie „Weltpoliti­kfähigkeit“beweisen, mahnt Juncker. Es ist die starke Vision eines starken Europas. „Vereint als Europäer sind wir eine Macht, mit der man rechnen muss.“Juncker, der Leidenscha­ftliche.

Allerdings ist Europa auch zerstritte­n, Juncker weiß, dass die EU viel zu selten mit einer Stimme spricht – vor allem in der Migrations­politik. Und so kündigt er Maßnahmen an. Die EU-Grenzschut­zagentur soll etwa massiv aufgestock­t werden, von jetzt 1500 Beamten auf 10 000 in zwei Jahren. Sie sollen auch mehr Kompetenze­n bekommen, etwa bei den Rückführun­gen von illegalen Zuwanderer­n. Zudem bringt Juncker ein Bündnis für nachhaltig­e Investitio­nen und mehr Arbeitsplä­tze in Afrika ins Spiel. Er spricht auch über besseren Schutz der EU-Bürger gegen Terror-Propaganda und besseren Schutz vor Wahlmanipu­lationen aus dem Ausland. Auch sein Verspreche­n zum Ende des Uhrendrehe­ns in Europa erneuerte Juncker: „Die Zeitumstel­lung gehört abgeschaff­t“, betonte der Luxemburge­r, dessen Kommission demnächst die Mitgliedst­aaten darüber abstimmen lässt. Kritik an Juncker gibt es bei der anschließe­nden Aussprache auch, Linke und Sozialiste­n werfen ihm vor, zu wenig in der Sozialpoli­tik getan zu haben.

Junckers Amtszeit endet bald. Nach der Europawahl, die eine „große Stunde der Europäisch­en Demokratie werden“, wünscht sich der Noch-Chef der Kommission. CSUMann Manfred Weber, der für seine Nachfolge kandidiert, findet Worte des Dankes. „Ohne Ihre Führung wäre es unmöglich gewesen, die letzten Jahre zu überstehen“.

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FOTOS: DPA, FOTOLIA; MONTAGE: LORENZ Wunsch und Wirklichke­it: Europa muss Stärke zeigen statt weiter zu streiten, mahnte der scheidende Kommission­schef Juncker.

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