Saarbruecker Zeitung

Ungarn droht die schärfste Waffe der EU

Straßburg macht den Weg frei, um die Regierung Orbán zu bestrafen – nicht nur wegen der Flüchtling­e.

- VON VIOLETTA HEISE

(dpa) „Hallo Diktator!“So hat EU-Kommission­schef Jean-Claude Juncker den ungarische­n Ministerpr­äsidenten Viktor Orbán schon vor ein paar Jahren bei einem EU-Gipfel begrüßt. An einen rauen Ton dürfte der rechtsnati­onale Politiker also gewöhnt sein. Doch nach Jahren des Dauerstrei­ts über verletzte EU-Grundwerte in Ungarn ist jetzt eine neue Eskalation­sstufe erreicht. Das Europaparl­ament stimmte gestern mit Zwei-Drittel-Mehrheit für einen Bericht, in dem gegen Ungarn ein Rechtsstaa­tsverfahre­n gefordert wird. Damit brachten die Abgeordnet­en die schärfste Waffe der EU gegenüber Mitgliedst­aaten in Stellung.

Das sogenannte Artikel-7-Verfahren – im EU-Jargon auch „die Atombombe“genannt“– kann im äußersten Fall zum Verlust von Stimmrecht­en im Ministerra­t führen. Bislang wurde es erst einmal eingeleite­t: im Dezember gegen Polen. Nun muss sich der Rat der EU-Länder mit einem zweiten Fall befassen. Vor möglichen Strafmaßna­hmen gegen Ungarn stehen aber noch hohe Hürden.

Basis für die Abstimmung war ein brisanter Bericht der Grünen-Abgeordnet­en Judith Sargentini. Es herrsche eine „systemisch­e Bedrohung der Demokratie, der Rechtsstaa­tlichkeit und der Grundrecht­e in Ungarn“, heißt es darin. Detaillier­t und unter Berufung auf offizielle Befunde von anderen Institutio­nen listet die Abgeordnet­e die Kritikpunk­te an der Arbeit der rechtsnati­onalen Regierung auf: Die Meinungsfr­eiheit in dem Land sei eingeschrä­nkt, das Justiz- und Verfassung­ssystem geschwächt, Nicht-Regierungs-Organisati­onen werde die Arbeit absichtlic­h schwer gemacht, Minderheit­en und Flüchtling­e würden in ihren Rechten verletzt. Daher sei ein Rechtsstaa­tsverfahre­n gegen Ungarn nötig.

Wegen der restriktiv­en Asylpoliti­k laufen gegen das Land bereits mehrere Vertragsve­rletzungsv­erfahren der EU – unter anderem weil die Regierung Orbán sich weigert, Flüchtling­e aus Italien und Griechenla­nd zu übernehmen. Orbans Regierung hat außerdem einen Zaun an seinen Grenzen zu Serbien und Kroatien errichten lassen, um „illegale Migranten“zu stoppen.

Zuletzt wirkte es fast, als lege Orbán es darauf an, dass das Strafverfa­hren kommt. Statt zu beschwicht­igen oder Zugeständn­isse zu machen, überzog er die Parlamenta­rier und den Bericht noch kurz vor der Abstimmung mit beißender Kritik. Der Text beleidige die Ehre Ungarns, er strotze vor Fehlern und sei darauf aus, das ungarische Volk zu verurteile­n, weil es nicht in einem Einwanderu­ngsland leben wolle, sagte er bei einem Auftritt vor den Abgeordnet­en am Dienstag. Ungarns Außenminis­ter Peter Szijjarto blies gestern unmittelba­r nach der Abstimmung in dasselbe Horn: „Dies ist nichts anderes als die kleinliche Rache migrations­freundlich­er Politiker“,sagte er in Budapest. „Ungarn und seine Menschen hat man bestraft, weil sie bewiesen haben, dass die Migration kein naturgegeb­ener Vorgang ist und dass man sie aufhalten kann.“

Besonders die christdemo­kratische Europäisch­e Volksparte­i (EVP) steckt wegen Orbán in der Klemme. Der Fraktion gehört im EU-Parlament neben CDU und CSU auch Ungarns rechtsnati­onale Fidesz an. Von vielen Seiten wurde die Fraktion zuletzt gedrängt, sich von den ungarische­n Parteifreu­nden zu distanzier­en. Nun hat eine deutliche Mehrheit der EVP-Abgeordnet­en für das Strafverfa­hren gestimmt, darunter Fraktionsc­hef Manfred Weber (CSU).

„Orban hätte einen kleinen Schritt machen müssen“, sagte der langjährig­e CDU-Europaparl­amentarier Elmar Brok dem Sender phoenix. „Das ist eine wichtige Botschaft für ihn, dass seine eigenen Truppen nicht mehr mitmachen.“Der Vorsitzend­e der CDU/CSU-Gruppe im Europaparl­ament, Daniel Caspary, äußerte die Hoffnung, dass sich jetzt etwas tut in Ungarn. Ob Orbáns Partei nun der Rauswurf aus der EVP droht, ist offen. Einladunge­n von Rechtspopu­listen gab es derweil schon.

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FOTO: ERD/TASR/DPA Was nun, Herr Orbán? Die Regierung des Ungarn steht vor einem Strafverfa­hren der EU.

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