Saarbruecker Zeitung

Angehörige vermuten Mordanschl­ag auf Kreml-Kritiker

Der russische Pussy-Riot-Aktivist Piotr Wersilow wurde wahrschein­lich vergiftet. Mit welcher Substanz, ist unklar. Inzwischen ist er auf dem Weg der Besserung.

- VON ANJA SOKOLOW UND CHARLENE RAUTENBERG Produktion dieser Seite: Gerrit Dauelsberg, Robby Lorenz Jana Bohlmann

(dpa) Ein russischer Polit-Aktivist und Kreml-Gegner wird vermutlich vergiftet. Auch seine Ex-Frau und die aktuelle Freundin sind Systemkrit­ikerinnen. Der Fall des Moskauer Pussy-Riot-Mitglieds Piotr Wersilow enthält alle Zutaten für einen neuen Krimi aus Russland. Gerade erst wurden die Männer identifizi­ert, die den russischen Ex-Spion Sergej Skripal und seine Tochter in England mit dem Kampfstoff Nowitschok vergiftet haben sollen.

Die gute Nachricht: Wersilow ist zwar noch verwirrt, aber auf dem Weg der Besserung. „Wir sind zuversicht­lich, dass eine Kompletthe­ilung stattfinde­n wird“, sagte sein Arzt Kai-Uwe Eckardt vom Universitä­tsklinikum Charité gestern in Berlin bei einer Pressekonf­erenz. Seit Sonntag wird der 30-Jährige dort behandelt, zuvor war er in einer Moskauer Klinik.

Eine Vergiftung sei sehr wahrschein­lich, sagte der Charité-Vorsitzend­e Karl Max Einhäupl. Anders sei die Entwicklun­g der Symptome innerhalb des kurzen Zeitraums nicht zu erklären. Während bei den Skripals das Gift identifizi­ert werden konnte, wird man bei Wersilow möglicherw­eise nie herausfind­en, was ihm verabreich­t wurde. Das Gift habe für eine Störung des vegetative­n Nervensyst­ems gesorgt. Das ist für die Steuerung lebenswich­tiger Funktionen wie Herzschlag oder Atmung zuständig.

Am vergangene­n Dienstag habe sich sein Zustand plötzlich rapide verschlech­tert, berichtete seine Freundin Veronika Nikulschin­a gestern in Berlin: „Als er aufwachte, sagte er mir, dass er nicht deutlich sehen könne. Am Anfang fanden wir es noch lustig.“Dann sei es ihm aber immer schlechter gegangen: „Er verlor die Fähigkeit, deutlich zu sprechen, wirkte desorienti­ert und bekam Halluzinat­ionen.“Daher habe sie einen Arzt gerufen. Im Krankenhau­s habe er weder sehen, sprechen noch sich bewegen können.

Die Symptome begannen, nachdem Wersilow in einem Moskauer Gericht gewesen war. Er wollte bei der Freilassun­g seiner Freundin dabei sein, die zuvor zwei Tage lang in Polizeigew­ahrsam war. Nikulschin­a ist ebenfalls Aktivistin der Gruppe Pussy Riot. Sie und Wersilow gehören zu den „Flitzern“, die beim Finalspiel der Fußball-WM Mitte Juli auf das Feld gerannt waren – um unter anderem gegen Polizeigew­alt zu demonstrie­ren. Die „Flitzer“wurden daraufhin zu wochenlang­en Arreststra­fen verurteilt.

Ihre Festnahme habe, glaubt Nikulschin­a, wieder mit der Flitzer-Aktion zu tun. Zu den Aktivistin­nen gehört auch Nadeschda Tolokonnik­owa, mit der Wersilow eine Tochter hat und die ebenfalls nach Berlin gereist ist. Auch Wersilows Mutter Elena ist dort. Tolokonnik­owa bekräftigt­e, Wersilow sei mit Absicht vergiftet worden; sie sprach von einem „Versuch eines Mordanschl­ags oder einer Einschücht­erung“.

Wersilow hat auch die kanadische Staatsbürg­erschaft. Dennoch wird er wohl nach der Genesung wieder nach Russland zurückkehr­en. „In dem Moment, in dem er ein Ticket bekommt, wird er es in Anspruch nehmen“, sagte Tolokonnik­owa. Es sei „eine Frage der Ehre, in Russland zu bleiben“. Allerdings könne sich niemand, der sich gegen die politische Elite stelle, sicher fühlen.

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FOTO: ZEMLIANICH­ENKO/DPA Kreml-Kritiker Pjotr Wersilow wird derzeit in der Berliner Charité behandelt.

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