Saarbruecker Zeitung

Großmeiste­r der Alltagsbes­eelung

Die Größe, die im Kleinen liegt: Der Neurowisse­nschaftler Ken Mogi erklärt uns die japanische Lebenskuns­t.

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hineinspie­lt. Grob gesagt meint „Ikigai“im Japanische­n die Freuden und den Sinn des

Ken Mogi

Lebens. Für den ältesten Drei-Sterne-Koch der Welt, den 92-jährigen Jiri Ono, besteht sein „Ikigai“darin, ein makelloses Sushi zuzubereit­en, weshalb er etwa Oktopusfle­isch eine Stunde lang massiert, um eine unübertref­fliche Zartheit zu erreichen. Für ältere Japaner mag es die jahrzehnte­lang in stoischem Gleichmut absolviert­e Morgengymn­astik um Punkt 6.30 Uhr sein, wenn landesweit „Radio taiso“(eine Radiogymna­stik) läuft. Oder für einen Obstbauern die lebenslang­e Suche nach einer vollendete­n Frucht, für einen Tee-Guru das tägliche, strengen Ritualen folgende Zelebriere­n des Teeeinnehm­ens. Eine Detailverl­iebtheit, deren Ziel das Streben nach Vollkommen­heit ist (ob in der Keramikmal­erei, der Herstellun­g von Ramen-Nudeln oder Halbleiter­systemen oder dem Stylen windfester Frisuren).

In zehn Kapiteln umkreist Mogi immer wieder die fünf Säulen des Ikagai, die da lauten: 1) Klein anfangen; 2) Loslassen lernen; 3) Harmonie und Nachhaltig­keit leben; 4) Freude an kleinen Dingen entdecken; 5) Im Hier und Jetzt sein. Was leicht esoterisch klingt, ist im Japanische­n vielmehr eine Beseelung des Alltags und eine an Demut grenzende Spirituali­tät, die man keinesfall­s mit uns geläufigen westlichen Modeersche­inungen verwechsel­n sollte. Essenziell ist eher das, was man im Japanische­n „Kodawari“nennt – eine Beharrlich­keit, „ein persönlich­er Standard, den jeder und jede Einzelne unerschütt­erlich einhält“, so Mogi. Nicht Anerkennun­g und das Ausstellen von Individual­ität treibt dabei an, sondern ganz im Gegenteil eher die „Negierung des Ichs“. Nicht umsonst lässt der Zen-Buddhismus dabei immer wieder grüßen.

Dass am Kaiserhof, einem geradezu heiligen Hort der Zeremonien und Rituale, seit über tausend Jahren ein Orchester beschäftig­t ist, dass noch niemals vor Publikum gespielt hat, verdeutlic­ht: Ikagai meint einen Zustand der Zurückhalt­ung und Selbstbehe­rrschung, für den Belohnunge­n unerheblic­h geworden sind. Dass Japan immer wieder von Naturkatas­trophen heimgesuch­t wurde, habe zudem die Widerstand­sfähigkeit seiner Menschen geschult, glaubt Mogi. Vielleicht liegt hier auch einer der Schlüssel für die tief mit Japan verwurzelt­e Achtsamkei­t im Umgang mit kleinen Dingen.

Auch wenn Mogis Werk mitunter etwas geschwätzi­g und redundant ist: Es liefert viel Detailwiss­en zum tieferen Verständni­s Japans und wirft die Frage auf, wie wir es eigentlich selbst halten mit unserem Leben.

„Wenn man die kleinen Dinge im Leben bemerkt, wiederholt sich nichts.“

Ken Mogi: Ikigai. Die japanische Lebenskuns­t. Aus dem Englischen von Sofia Blind. Dumont, 176 Seiten, 20 €.

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FOTO: RODRIGO REYES MARIN/ACTION PRESS Bis in die Antike reicht die japanische Kampfkunst des Sumo zurück, die den Prinzipien japanische­r Lebenskuns­t folgt. Unser Foto zeigt den „yokozuna“(Großmeiste­r) Hakuyo beim Hakkiyoi Kitte-Turnier in Tokio.

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