Saarbruecker Zeitung

Der Islamische Staat formiert sich neu

Die Terrormili­z ist militärisc­h am Ende, aber weiter hochgefähr­lich, sagen Experten. Ihr Arm reicht noch immer weit – vielleicht sogar bis Köln.

- VON BASSEM MROUE

(ap/dpa) Dass die Terrormili­z Islamische­r Staat auch in Europa nicht verschwund­en ist, zeigt sich zurzeit in Köln. Dort prüft die Bundesanwa­ltschaft nach der Geiselnahm­e am Hauptbahnh­of, ob der 55-jährige Syrer Mohammad A.R. im Namen des IS handelte – und geht offenbar davon aus. Gestern spricht die Behörde von „zureichend­en Anhaltspun­kten auf einen radikal-islamistis­chen Hintergrun­d“.

Der IS ist also noch da. Zwar scheint es in Europa ruhiger geworden zu sein, nach den Jahren der großen, tödlichen Anschläge 2015 bis 2017. Zwar ist die Terrormili­z auf den Schlachtfe­ldern im mittleren Osten weitgehend besiegt. Aber eben nicht weg. sind die Islamisten zu dem zurückgeke­hrt, was sie bis zu ihren spektakulä­ren militärisc­hen Erfolgen von 2014 waren: ein undurchsic­htiges Netzwerk Aufständis­cher, das mit Guerilla-Anschlägen zivile Ziele angreift und sich staatliche Schwächen für seinen sektiereri­schen Kampf zunutze macht.

Im Irak und in Syrien vergeht fast keine Woche ohne einen IS-Angriff auf eine Stadt oder ein Dorf. Das sei genau jene Strategie, die die Terrormili­z um das Jahr 2010 verfolgt habe, sagt Hischam al-Haschimi, IS-Experte und Berater der irakischen Regierung. Vier Jahre später nahmen die Islamisten Mossul ein, eine der größten Städte des Iraks. Sie erklärten Al-Rakka in Syrien zu ihrer Hauptstadt und riefen ein Kalifat aus, das sich über weite Regionen beider Länder erstreckte.

Al-Haschimi sagt, die gefährlich­ste Gruppe von Aufständis­chen weltweit versuche zu beweisen, dass sie trotz des Verlusts ihres Gebietes noch immer genug Kraft habe, um zuzuschlag­en. Dazu gehört auch, dass die Gruppe zuletzt immer wieder Angriffe für sich reklamiert­e, die sie erwiesener­maßen gar nicht ausgeführt hatte. Damit will der IS zeigen, dass er weiterhin von Bedeutung ist, sagen Experten.

Denn die wichtigste­n Protagonis­ten der einst nahezu perfekt laufenden IS-Propaganda­maschine sind tot. Al-Rakka fiel vor einem Jahr. Und die Gruppe hat im Vergleich zu ihrer Blütezeit nur noch zwei Prozent der Gebiete im Irak und in Syrien von damals unter Kontrolle. Auch wenn der IS vermutlich nie wieder so viele Gebiete unter seine Kontrolle bekommen wird wie einst, gibt es Anzeichen dafür, dass die Organisati­on an neuen Orten Fuß fassen will. Einer der blutigsten Angriffe nach dem Zusammenbr­uch des sogenannte­n Kalifats erfolgte im Juli in der Stadt Suweida im Süden Syriens mit mehr als 200 Toten. Zudem wurden rund 30 Menschen – vor allem Frauen und Kinder – verschlepp­t.

Der Angriff traf die Menschen dort völlig unvorberei­tet, war die Region doch von dem seit sieben Jahren andauernde­n Bürgerkrie­g in Syrien bis dahin weitgehend verschont geblieben. Die Sorge ist, dass die Gruppe versucht, sich in einst ruhigen Gegenden neu zu formieren.

Auch im Irak gibt es Gegenden, in denen der IS weiter aktiv ist. Im Ort Gharib im Norden des Landes töteten IS-Mitglieder vergangene­n Monat drei Menschen und verletzten neun weitere. Der irakische Militärspr­echer Jahja Rassul erklärte diese Woche, man habe eine großangele­gte Operation in der Provinz Anbar im Westen des Landes an der Grenze zu Syrien gestartet. Ziel sei es, Zellen mit IS-Schläfern auszuheben.

Beobachter warnen, dass das zu einem neuen Aufstand der Gruppe führen könne — ähnlich wie jenem, den es vor ihrem Aufstieg im Jahr 2010 gegeben habe. Damals waren viele Beobachter davon ausgegange­n, die Vorgängero­rganisatio­n im Irak sei im Zuge der US-Aktionen im Jahr 2007 besiegt gewesen.

Wie viele Extremiste­n noch für den IS kämpfen, ist unklar. Ein Bericht der Vereinten Nationen vom August geht von bis zu 30 000 Mitglieder­n aus, die zu etwa gleichen Teilen auf Syrien und den Irak verteilt sind. Das globale Netz der Terroriste­n werde zunehmend zu einer Bedrohung. Obwohl der IS im Irak und in Syrien weitgehend besiegt sei, gelte es als wahrschein­lich, dass der Kern der Gruppe im Verborgene­n überleben werde, heißt es weiter. Zudem gebe es eine signifikan­te Zahl von Unterstütz­ern in Afghanista­n, Libyen, Südostasie­n und Westafrika. Die Gefahr ist also noch lange nicht gebannt – weltweit.

Wie viele Extremiste­n

noch für den IS kämpfen, ist unklar. Mit bis zu 30 000 in Syrien und im Irak

rechnen die Vereinten Nationen.

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FOTO: AP/RAQQA MEDIA CENTER OF THE ISLAMIC STATE GROUP 2014 war das Jahr spektakulä­rer militärisc­her Erfolge der Terrormili­z Islamische­r Staat. Sie eroberte Mossul im Irak und erklärten Al-Rakka in Syrien (Foto) zur Hauptstadt ihres Kalifats. Inzwischen ist der IS militärisc­h fast besiegt. Aber er formiert sich neu, warnen Experten.

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