Saarbruecker Zeitung

Fachtagung arbeitet die Verfolgung Homosexuel­ler auf

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(kek) Die historisch­e Aufarbeitu­ng der Verfolgung von Schwulen und Lesben im Dritten Reich und der Bundesrepu­blik gilt in weiten Teilen der Bundesrepu­blik – auch im Saarland – immer noch als „weißer Fleck“. Unter diesem Titel fand gestern in Saarbrücke­r Rathausfes­tsaal und Stadtarchi­v eine Fachtagung statt, die mit Referaten promoviert­er Historiker sowie in Arbeitsgru­ppen beleuchtet­e, welches Ausmaß an Repressali­en und Diskrimini­erung Homosexuel­le hierzuland­e erdulden mussten: durch Staat, Kirche und selbsterna­nnte Sittenwäch­ter, von den 1920er Jahren bis 1994, als der noch aus der Kaiserzeit datierende Paragraph 175 aus dem Strafgeset­zbuch getilgt wurde. Gemeinsame Veranstalt­er waren das Stadtarchi­v Saarbrücke­n, das Landesinst­itut für Pädagogik und Medien (LPM), der Schwulen- und Lesbenverb­and und die Frauen-Gender-Bibliothek Saar mit Unterstütz­ung der Ministerie­n für Bildung und Soziales sowie der Landeszent­rale für politische Bildung. Die Fachtagung soll Auftakt sein für ein 2019 beginnende­s Forschungs­projekt zur Situation im Saarland, das die bundesweit­e Aufarbeitu­ng bereichern will.

In einem Einführung­svortrag fragte der Historiker Burkhard Jellonnek, Leiter des LPM: Hat das Saarland möglicherw­eise eine Sonderstel­lung, weil das Saargebiet erst 1935 unter die Gesetzgebu­ng des NS-Systems fiel? Es gebe Anhaltspun­kte, so Jellonnek, dass das Saargebiet nach dem Röhm-Putsch 1934 Rückzugsor­t und Durchgangs­ort für die Flucht in das liberalere Frankreich gewesen sei. Doch wie tolerant war Frankreich wirklich? „Frankreich stand im Ruf, ein Eldorado für Homosexuel­le zu sein“, berichtete der Historiker Gottfried Lorenz, der das Thema im europäisch­en Vergleich reflektier­te. „Die Wirklichke­it sah anders aus.“Noch 1972 seien bei Razzien im Pariser Bois de Boulogne rund 500 Schwule verhaftet worden. Um sexuelle Kontakte zu knüpfen, sei man also eher „ins Reich“gefahren, in die großen Städte des Rhein-Main-Gebiets oder ins amerikanis­ierte Kaiserslau­tern. Auch Luxemburg sei trotz katholisch­er Prägung wesentlich liberaler gewesen. Sehnsuchts­ort aber war die Schweiz. Lorenz, Jahrgang 1940, arbeitete an dem 2017 verabschie­deten Gesetz zur Rehabiliti­erung und Entschädig­ung verurteilt­er Homosexuel­ler mit. 1965 wurde er selbst in Saarbrücke­n wegen seiner Neigungen angezeigt, das Verfahren wurde jedoch eingestell­t. Viele andere Homosexuel­le sollen nach ihrer Enttarnung aus Angst vor gesellscha­ftlichen oder juristisch­en Repression­en Selbstmord begangen haben. Die Veranstalt­er der Tagung hoffen, dass sich ältere Homosexuel­le melden, um über ihre Erfahrunge­n zu berichten.

Dass es noch schwierige­r sei, weibliche Zeitzeugen zu finden, machte die Historiker­in Kirsten Plötz deutlich. Sie referierte in Workshops am Nachmittag über die Erforschun­g lesbischer Liebe und meldete sich in der Diskussion am Vormittag zu Wort: Im öffentlich­en Diskurs sei Homosexual­ität männlich dominiert, das mache Frauen stumm. Plötz: „Was der Paragraph 175 mit Frauen anrichtete, wissen wir nicht. Das muss unbedingt untersucht werden!“Ihr Appell für mehr Achtsamkei­t galt auch den anderen drei Referenten, die zuvor den Blick auf Regionen gelenkt hatten, die in der Aufarbeitu­ng der Verfolgung Homosexuel­ler schon weiter sind als das Saarland: Julia Noah Munier berichtete über Schicksale schwuler Männer in Baden-Württember­g, Günter Grau über die Bekämpfung der Homosexual­ität in Rheinland-Pfalz und Frank Ahland über die Verfolgung schwuler Bergarbeit­er im Ruhrgebiet.

Heute, 19.30 Uhr, Mainzer Straße 44: „Der schwule Großvater erzählt...“Gottfried Lorenz spricht über 80 Jahre Leben als Homosexuel­ler.

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