Saarbruecker Zeitung

Wo es Grenzwerte gibt, wird auch geschummel­t

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Europas Autofahrer haben viel mitgemacht. Inzwischen wissen sie, dass ihre Diesel-Autos nicht nur mit billigem Sprit, sondern auch mit Harnstoff unterwegs sind. Damit das nicht so unappetitl­ich klingt, heißt der Zusatz AdBlue. Über die Größe des dafür nötigen Zusatztank­s wurde heftig gestritten – vor allem zwischen den Autobauern. Fünf Prozent müssten dem Treibstoff zugemischt werden, um die Abgasnorm Euro 6 zu erreichen. Doch das wollte man den Kunden möglichst nicht zumuten, hätten diese dann ja bei nahezu jedem vierten Tankstopp auch AdBlue nachfüllen müssen. Stattdesse­n drosselten die Autobauer die Zugabe und nahmen erhöhte Stickoxid-Emissionen in Kauf. „Falls der Verdacht zutreffen sollte, hätten die Hersteller den Verbrauche­rn die Möglichkei­t vorenthalt­en, umweltfreu­ndliche Autos zu kaufen, obwohl die entspreche­nden Technologi­en zur Verfügung standen“, stellte EU-Wettbewerb­skommissar­in Margrethe Vestager im September dieses Jahres verärgert fest.

Inzwischen ermittelt ihre Behörde. Dabei sind keineswegs nur deutsche Konzerne betroffen – und übrigens nicht nur Diesel-Motoren, sondern auch Benziner mit sogenannte­r Direkteins­pritzung. Renault, Dacia, Peugeot, Citroën, Fiat-Chrysler – sie hängen alle irgendwie mit drin. Auszug aus einem Test des Automobilc­lubs ADAC von 188 Diesel-Modellen: Ein einziges Fahrzeug vom Typ Renault Scénic 160 dCI gab innerorts so viel Stickoxide ab wie rund 240 Autos vom Typ BMW 520 d. Inzwischen wird die Schummelei bei den Diesel-Motoren als der größte Skandal der deutschen Wirtschaft­sgeschicht­e beschriebe­n – richtiger wäre wohl der europäisch­en Industrie.

Doch während die Verbrauche­r nicht nur in der Bundesrepu­blik immer noch auf die Klärung der Frage warten, ob sie nun eine Hardware-Nachrüstun­g bekommen und ihre Autos weiter nutzen können, zieht die Experten-Diskussion weitere Kreise. Und plötzlich gerät die Brüsseler EU-Kommission selbst ins Visier. Der Vorwurf: Sie habe die Klimaschut­z-Diskussion viel zu lange in die falsche Richtung laufen lassen.

Tatsächlic­h setzte Brüssel um die Jahrtausen­dwende in der Politik gegen die Erderwärmu­ng vorrangig auf die Reduzierun­g des Kohlendiox­ids. CO2-arme Produkte und Autos galten als der große Renner. „Das war aus heutiger Sicht ein zumindest missverstä­ndliches, aber wohl auch falsches Signal für die Hersteller“, räumte jetzt ein hochrangig­es Mitglied der EU-Behörde ein. Noch um die Jahrtausen­dwende gab es Absprachen mit dem Verband europäisch­er Automobilh­ersteller (ACEA), in denen Klimaschut­z praktisch mit CO2-Vermeidung gleichgese­tzt wurde – obwohl es damals bereits Hinweise auf die Stickoxid-Belastung der Atemluft durch Selbstzünd­er gab. Diesel-Fahrzeuge galten zwar als teurer, blieben aber weit unter den Grenzwerte­n für Kohlendiox­id und handelten sich spätestens mit der Einführung der Rußpartike­lfilter den Ruf ein, modern und umweltfreu­ndlich zu sein. Ein Image, das durch den steuerlich heruntersu­bventionie­rten Dieselprei­s noch verstärkt wurde und zum bekannten Verkaufsbo­om führte – und zu Luftverunr­einigung in den Ballungsze­ntren. „Ein Paradebeis­piel für falsche Industriep­olitik“, sagte der Insider.

Dabei geht die grundsätzl­iche Kritik genau genommen noch weiter. Zwar gehört der Diesel-Skandal zu den besonders eklatanten Verfehlung­en von Hersteller­n beim Umgang mit Grenzwerte­n. Aber auch in anderen Branchen sind ähnliche Schummelei­en verbreitet. Kritiker des ständigen Drehens an der Grenzwert-Schraube wie der Publizist Peter Mühlbauer bringen gerne ein besonders eklatantes Beispiel für den – wie sie sagen – Widersinn dieser Politik: „Der Stickstoff-Grenzwert an deutschen Straßen wurde auf 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Atemluft festgelegt. In geschlosse­nen Räumen liegt er fast 24 Mal so hoch: bei 950 Mikrogramm pro Kubikmeter. So viel erlaubt das Bundesgese­tzblatt Innenrauml­uft als ‚Maximale Arbeitspla­tz-Konzentrat­ion (MAK)‘.“

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