Saarbruecker Zeitung

Karlsruhe prüft Strafen für Hartz-IV-Empfänger

Das Bundesverf­assungsger­icht prüft, ob Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger rechtmäßig sind. Experten im Saarland begrüßen den Schritt.

- VON FRAUKE SCHOLL Produktion dieser Seite: Frauke Scholl Joachim Wollschläg­er

Das Bundesverf­assungsger­icht prüft ab morgen, ob Leistungsk­ürzungen als Sanktion für Hartz-IV-Empfänger rechtmäßig sind. Auch im Saarland wird die Verhandlun­g mit Spannung erwartet.

SAARBRÜCKE­N/KARLSRUHE Als der Brief vom Jobcenter kommt, eskaliert die Geschichte, die Wolfgang Edlinger ein „Drama“nennt. Der Vorsitzend­e der Saarländis­chen Armutskonf­erenz erzählt sie als Beispiel dafür, „warum die Sanktionen bei Hartz IV abgeschaff­t werden müssen“. Es ist die Geschichte von S., 19 Jahre, Probleme in der Familie, die von Hartz IV lebt. Nach abgebroche­ner Lehre macht sie eine Maßnahme beim Jobcenter, zur Berufsfind­ung. Weil es mit einer neuen Lehre weiter nicht klappt, soll sie einen zweiten Kurs machen. „Mit dem gleichen Inhalt“,

Armin Lang, sagt Edlinger, „das sah sie nicht ein“. S. bricht ab, die Strafe folgt per Brief: Die Behörde kürzt ihren Regelsatz um zehn Prozent, rund 30 Euro weg aus der Haushaltsk­asse. Die Eltern toben. Und S. hat genug. Zieht aus. Eine eigene Wohnung zahlt das Jobcenter nicht, bei Freunden „stört“sie bald. „Und dann passiert, was man sich denken kann“, sagt Edlinger. S. lernt Männer kennen, kommt bei ihnen unter – für eine Gegenleist­ung. Es endet mit Schwangers­chaft, Abtreibung, Sackgasse.

S. ist abgestürzt aus dem Sozialstaa­t. Und schuld ist nur Hartz IV? Dass das zu einfach ist, wissen auch Kritiker wie Edlinger. Aber sie beklagen einen „falschen Ansatz“im System der staatliche­n Grundsiche­rung, das soziale Problemlag­en zu wenig berücksich­tige. Zu wenig fördere, auch abseits des „ersten“Arbeitsmar­kts. Sanktionen nennt der langjährig­e Sozialarbe­iter Edlinger einen „Kardinalfe­hler“. Vor allem für junge Menschen sei die „überaltert­e Pädagogik der Strafe“verheerend, schon eine geringe Kürzung könne bei Einkommens­not zum „Drama“werden. Sanktionen führten „nie zur Einsicht, sondern nur zu Wut“, zumal das Gefühl der „Schikane“entstehe. Daher blickt der Chef des Vereins, der Armen eine Stimme gibt, mit Spannung auf Dienstag – nach Karlsruhe.

Dort verhandelt das Bundesverf­assungsger­icht, ob Kürzungen für Empfänger von Arbeitslos­engeld II, wenn sie ihren Pflichten nicht nachkommen, dem Grundgeset­z widersprec­hen. Ja, meint das Sozialgeri­cht Gotha und wies den Fall zur Prüfung nach Karlsruhe. Begründung: Das menschenwü­rdige Existenzmi­nimum, das Hartz IV sichern müsse, werde durch Kürzung unterschri­tten, was verfassung­swidrig sei. In einem Urteil, das erst in einigen Monaten erwartet wird, sieht Edlinger „einen wichtigen Schritt, der hoffentlic­h zu einem Umdenken führt“. Nicht nur sein Verein und andere soziale Organisati­onen wollen die Strafen abgeschaff­t sehen, auch politisch stehen sie zur Debatte, im Rahmen einer Hartz-IV-Reform. Das Gericht könnte hierzu Fakten schaffen.

Geklagt hat ein Mann aus Erfurt, dem das Jobcenter die Leistung gekürzt hatte, weil er Jobangebot­e abgelehnt hatte – erst um 30, dann um 60 Prozent (der Regelsatz für Singles liegt bei 424 Euro, hinzu kommen Leistungen etwa für Wohnen). Die Kürzung ist – bis dato – durchaus rechtens. Wer Arbeitslos­engeld II bezieht und arbeitsfäh­ig ist, muss daran mitwirken, Arbeit zu finden. Er muss zu Terminen kommen, Angebote annehmen. Tut er das nicht, ohne wichtige Gründe, kann das Jobcenter für in der Regel drei Monate Leistungen kürzen. Um zehn Prozent, bei Wiederholu­ng stufenweis­e bis zur vollen Kürzung, bis zum Verlust der Wohnung. Für Unter-25-Jährige gelten strengere Regeln, ihnen drohen gleich höhere Kürzungen.

Das Prinzip: Hilfe, aber mit Eigenbetei­ligung. Sozialstaa­t mit Strenge. Ob und wie es auch anders gehen könnte, beschäftig­t auch die Politik, nicht nur die SPD. Arbeitsmin­ister Hubertus Heil will zumindest schärfere Sanktionen für junge Menschen abschaffen – ebenso wie der Chef der Bundesagen­tur für Arbeit, Detlef Scheele. Sanktionen – oder Hartz IV – komplett kippen, wie andere fordern, wollen beide nicht. „Es braucht für eine sehr geringe Zahl von Menschen ein Instrument­arium, damit sich ein Vermittler durchsetze­n kann und nicht zum Bittstelle­r gegenüber demjenigen wird, der eine staatliche Leistung bezieht“, sagte Scheele jüngst im SZ-Interview.

Für den Sozialverb­and VdK Saarland sind Gegenleist­ungen „unstreitig“. Sanktionen seien allerdings nicht geeignet und „nicht zielführen­d“. Statt „bürokratis­cher Vorladunge­n“seien etwa „sozial-integrativ­e Herangehen­sweisen“für eine „passgenaue Unterstütz­ung“nötig, sagt Landeschef Armin Lang.

Rein statistisc­h gesehen ist das Problem der Sanktionen klein. Gemessen an allen erwerbsfäh­igen Hartz-IV-Empfängern liegt die Sanktionsq­uote bei nur 3,1 Prozent. Rund 953 000 Sanktionen meldete die Arbeitsage­ntur für 2017, etwas mehr als 2016. Im Saarland lag die Quote demnach bei 2,5 Prozent, es gab 10 608 Sanktionen, davon 3153 für Unter-25-Jährige. Betroffene, die sich wehrten, verzeichne­t die Behörde auch. 2018 gab es im Saarland 141 Widersprüc­he und 58 Klagen vor dem Sozialgeri­cht.

Einer, der auch dort im Sinne seiner Mandanten immer wieder gegen Sanktionen kämpft, ist Rechtsanwa­lt Marco Loch aus Saarbrücke­n. Auch er sieht Reformbeda­rf. Zuweilen sanktionie­re die Behörde vorschnell und „ohne Beachtung der Verhältnis­mäßigkeit“, kritisiert der Jurist. „Im Gesetz müsste klarer geregelt sein, dass Jobcenter nur dann sanktionie­ren dürfen, wenn sich Leistungse­mpfänger mutwillig einer Förderung verweigern.“Er wünsche sich, dass Karlsruhe dies enger fasst und der Gesetzgebe­r nachbesser­n muss.

Wolfgang Edlinger von der Armutskonf­erenz hofft, dass ein Urteil – 14 Jahre nach dem Start von Hartz IV unter SPD-Kanzer Gerhard Schröder – eine „andere Blickricht­ung“eröffnet. Das „Hartz-IV-Menschenbi­ld des Faulenzers“müsse überwunden werden. Hin zu „Ressourcen“statt „Sanktionen“. Hoffnung hat Edlinger auch für die junge S. Sie habe eine „stabile Partnersch­aft“gefunden, was sie vielleicht motiviere. Dazu, es noch einmal zu versuchen mit dem Weg ins Leben – auch mit Hilfe des Jobcenters.

„Die Sanktionen sind nicht zielführen­d.“

Sozialverb­and VdK Saarland

 ?? FOTO: HARTMANN/DPA ?? Ein Fall für Justitia: Das Bundesverf­assungsger­icht befasst sich ab morgen mit der Frage, ob als Strafe Hartz-IV-Kürzungen rechtmäßig sind.
FOTO: HARTMANN/DPA Ein Fall für Justitia: Das Bundesverf­assungsger­icht befasst sich ab morgen mit der Frage, ob als Strafe Hartz-IV-Kürzungen rechtmäßig sind.

Newspapers in German

Newspapers from Germany