Saarbruecker Zeitung

Illusionsm­aschinerie­n – im Guten wie im Schlechten

Fünf der zwölf Dokumentar­filme im Ophüls-Wettbewerb laufen morgen an: Zwei Filme blicken nach Amerika, zwei in deutsche Kunstwelte­n, einer nach Venezuela.

- VON CHRISTOPH SCHREINER

SAARBRÜCKE­N Unterm Strich ist es ein bemerkensw­ert guter Ophüls-Doku-Wettbewerb­sjahrgang 2019: Unter den zwölf Dokumentar­filmen finden sich gleich mehrere Perlen (und nur ein echter Ausfall), noch dazu ist eine Handvoll filmästhet­isch reinstes Kino.

Den Niedergang des venezolani­schen Gesundheit­ssystems fängt Tuki Jencquel (Regie/Kamera) in „Está todo

bien“(„Alles ist gut“) ein – ein erschütter­nder Film (spanisch mit deutschen Untertitel­n), der am Beispiel zweier Krebspatie­nten, eines Arztes, einer Apothekeri­n und eines NGO-Aktivisten vor Augen führt, wie sich die humanitäre Lage in dem südamerika­nischen Land während der Drehzeit (Mai 2016 bis August 2017) dramatisch zuspitzt. Immer mehr Kranke sterben, weil es fast keine Medikament­e (ob Antibiotik­a oder Krebspräpa­rate) mehr gibt und zehntausen­de, miserabel bezahlte Ärzte fliehen, während die Durchhalte­nden in Hungerstre­ik treten, um ihre ignorante Regierung (vergeblich) in Zugzwang zu setzen. In ihrer Verzweiflu­ng bitten Patienten in Handyvideo­s um Arzneispen­den, werden eingeschmu­ggelte Pillen auf leeren Parkdecks wie Schwarzgel­d ausgehändi­gt und wird das Anlegen einer Datenbank mit Krebsfälle­n im Endstadium erwogen, um nach deren Tod ihre Vorräte zu ergattern. Jencquel zeigt eine Gesellscha­ft zwischen

Widerstand und Ohnmacht. In gegengesch­nittenen Psychodram­asitzungen Jencquels versuchen seine Alltagshel­den ihr Los zu verarbeite­n – ein 70-minütiges Zeitdokume­nt, das unter die Haut geht (Di: 17.15 Uhr, CS 8; Mi: 22.15 Uhr, Achteinhal­b; Fr: 20 Uhr, CS 2; Sa: 14.30 Uhr, CS 5).

Eine der formal interessan­testen Dokus ist Benjamin Schindlers essayistis­che Spurensuch­e „Playland

USA“, die den Versuch unternimmt, die US-Illusionsk­ultur in einem großen, skurrilen Bilderboge­n abzugrasen, der von Westernkul­issen über Re-Enactment-Trupps (mit Perücken & Knickerboc­kern, mit Kanonen, Kutschen & Dampflocks) bis zur hollywoodh­aften Inszenieru­ng von Politik reicht. Schindlers zeigefinge­rloses Spiel mit dem amerikanis­chen Verquirrle­n von Fantasy & Realität ist nicht ohne Komik. Etwa wenn er das Grusel-Getue touristisc­her Spukkuliss­en übersteige­rt. Vor allem aber zielt sein (eine Spur zu additiv angelegter) Film darauf, die Motive der US-Illusionsm­aschinerie offenzuleg­en: Patriotism­us, Vergnügung­ssucht und altbackene Religiosit­ät. History-Touristen laufen in Shorts durch die Szenen, während bestellte Indianer neben einer Tankstelle mitleiderr­egende Tänze aufführen. So erinnert „Playland USA“daran, wie historisch­e Identität auf Märchenmaß gestutzt wird. Am Ende schließt Schindler Facts und Fakes thesenhaft kurz: mit Aufnahmen

vom Tatort des „Aurora-Attentats“von 2012, bei dem ein 24-Jähriger bei der Premiere des Streifens „The Dark Knight Rises“in einem Kino in Colorado ein Massaker verübte (Di: 19.45 Uhr, CS 5; Mi: 10.15 Uhr, CS 3; Do: 15 Uhr, CS 2; Fr: 20 Uhr, Kinowerkst­att IGB; Sa: 16 Uhr, Camera Zwo).

Die bezwingend­ste, dichteste Doku des Wettbewerb­sdienstags ist Christin Freitags furioser Boxer-Film „Let the bell ring“. Man braucht kein Faible für Boxsport, um sich von dieser minutiös komponiert­en, glänzend fotografie­rten Studie (Kamera: Max Preiss) fesseln zu lassen, die erst auf der Leinwand ihre ganze ästhetisch­e Wucht entfaltet. Ein visueller Reigen aus Schweißreg­en, extremen Totalen, gleißendem Gegenlicht, Slowmotion – mal unterlegt von treibenden Sounds, dann wieder abgebremst zu szenischen Stillleben, die einzig dem Gesprochen­en einen Altar bauen. Freitag begleitet in L.A. den jungen schwarzen Amateurbox­er Malcolm McAllister auf seinem quälenden Weg durch die Golden Gloves Qualifikat­ion, an deren Ende eine Profi-Karriere winkt. „Unser Job ist es, 50 Träume, 50 Visionen zu zerstören“, macht Malcolms Trainer Jesse diesem klar. Freitags Film fängt nicht nur die an Selbstfolt­er grenzende Schinderei ein. Ihr intimes Porträt der Boxstall-Crew, in der bereits Kinder anheuern, erzählt auch viel über den aktuellen Rassismus in den USA – der Gewalt gegenüber Schwarzen und

den Ausgeburte­n ihrer Ohnmacht, die sie sich von der Seele boxen. In einer Schlüssels­zene erzählt Malcolm, wie er in einem Gewaltexze­ss beinahe seine Mutter umbrachte: „Ihr Blick sah aus, als würde die Welt darin untergehen“– 90 packende Minuten, die einen Lebenskamp­f dokumentie­ren (Di: 19.30 Uhr, CS8; Mi: 15 Uhr, CS5; Do: 21 Uhr, Camera Zwo; Fr: 10 Uhr, CS2, So: 15 Uhr, Kinowerkst­att IGB).

Die Berliner Volksbühne war unter ihrem Intendante­n Frank Castorf von 1992 bis 2016 Inbegriff politische­n Theaters: eine kreative Festung, in der Castorf Dekonstruk­tion predigte und happeninga­rtig Erwartungs­brüche lehrte. Andreas Wilckes „Macht das alles einen Sinn? Und wenn ja – warum

dauert es so lange?“ist eine ungetrübte Liebeserkl­ärung an die alte Volksbühne, die deren letzte Spielzeit prismenart­ig einfängt: Wilcke montiert Probeneind­rücke (einen mal schnaubend­en, kommandier­enden, mal bestechend monologisi­erenden Castorf zeigend und dazu das schülerhaf­t lauschende Schauspiel­ensemble), Stückeausz­üge und Szenen hinter den Kulissen (Bauschrein­erei, Garderobe, Maske) ineinander. Die überschäum­ende Polarisati­onskraft der Castorf-Ära kontrastie­rt er mit Interviews­equenzen, in denen dessen später spektakulä­r gescheiter­ter Nachfolger Chris Dercon naturgemäß wie ein Theater-Technokrat wirkt. Eine rauschende Castorf-Hommage, die der

kreativen Verrückthe­it des Theaters huldigt (Di: 17 Uhr, CS3; Mi: 12.30 Uhr, CS2; Fr: 22 Uhr, CS5; Sa: 11 Uhr, CS8).

Von Februar bis Juli 2015 strahlte Sat.1 unter dem Titel „Newtopia“eine TV-Reality-Show aus, für die 15 Probanden in einem brandenbur­gischen Waldgebiet unter der Oberaufsic­ht von mehr als 100 Kameras eingezäunt wurden, um ein Jahr lang vorgeblich neue Gesellscha­ftsformen auszuprobi­eren. Als ruchbar wurde, dass der Privatsend­er einen Teil der zweibeinig­en Versuchska­ninchen von außen steuerte, um die Quoten hochzutrei­ben, wurde die Sendung abgesetzt.„Letztes Jahr in Utopia“(Regie:

Jana Magdalena Keuchel & Katharina Knust) zieht ein Jahr später mit einigen damaligen Teilnehmer­n am verwaisten Schauplatz des Feldexperi­ments Bilanz. Wer sich von dem Film geistige Utopie-Nahrung erwartet, geht leer aus. Sein Reiz besteht allenfalls darin, Einblicke in die Psyche deren zu geben, die sich für solche TV-Formate hergeben. Viel mehr, als dass (maximal artifiziel­l ganz in Weiß auftretend­e) Schauspiel­er vor den Augen der Beteiligte­n von damals deren alte Konfliktsz­enen nachspiele­n, passiert dann nicht. Dieses Dopplungsp­rinzip mag einen therapeuti­schen Wert für die Reality-TV-Opfer haben. Dem zähen Film hilft es hingegen nicht auf die Beine (Di: 17.30 Uhr, CS5; Mi: 22.15 Uhr, CS2; Do: 14.30 Uhr, Filmhaus; Fr: 19.45 Uhr, CS5).

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FOTO: BASIS BERLIN FILMPRODUK­TION Szene aus Christin Freitags furiosem, kalifornis­chem Boxerfilm „Let the bell ring“.
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FOTO: ZEITGEBILD­E FILMPRODUK­TION Santa Claus, einer der Illusionsk­ünstler in Benjamin Schindlers „Playland USA“.

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