Saarbruecker Zeitung

Verfassung­sgericht nimmt Hartz-IV-Sanktionen unter die Lupe

Unkooperat­ives Verhalten wird vom Jobcenter bestraft. Karlsruhe überprüft nun, ob der Staat Menschen die Existenzgr­undlage streichen darf.

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(dpa) Erst muss er mit 117,30 Euro weniger auskommen, dann mit 234,60 Euro weniger: Gleich zwei Mal kürzt das Jobcenter Erfurt einem Mann 2014 die monatliche Grundsiche­rung, weil er bei der Arbeitssuc­he nicht kooperiert. Nur einer von vielen Tausenden Hartz-IV-Empfängern, die die unschöne Seite des Prinzips „Fördern und Fordern“zu spüren bekommen. Das Bundesverf­assungsger­icht hat das System gestern grundsätzl­ich hinterfrag­t (Az. 1 BvL 7/16). Seit der Zusammenfü­hrung von Arbeitslos­enund Sozialhilf­e zu Hartz IV unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) weht für die Bezieher ein rauerer Wind. Jede Arbeit ist zumutbar, heißt seit 2005 der Grundsatz. Wer staatliche Hilfe in Anspruch nimmt, ist verpflicht­et, sich aktiv darum zu bemühen, dass das so bald wie möglich nicht mehr notwendig ist. Diejenigen, die diesen Ansprüchen nicht gerecht werden, straft das Zweite Sozialgese­tzbuch mit Leistungsk­ürzungen. Arbeitsmin­ister Hubertus Heil (SPD) verteidigt­e die Pflichten zur Mitwirkung: „Wenn jemand das x-te Mal keinen Termin wahrnimmt von einem Amt, dann muss das auch Konsequenz­en haben.“ Betroffene bekommen drei Monate lang weniger Geld. Wie viel gestrichen wird, hängt von der Schwere der Verfehlung ab. Wer ohne triftigen Grund einen Termin beim Jobcenter versäumt, büßt zehn Prozent des sogenannte­n Regelsatze­s von aktuell 424 Euro für alleinlebe­nde Erwachsene ein. Wer ein Jobangebot ausschlägt oder eine Fördermaßn­ahme abbricht, setzt 30 Prozent aufs Spiel – beim zweiten Mal binnen eines Jahres 60 Prozent und beim dritten Mal das komplette Arbeitslos­engeld II, samt Heiz- und Wohnkosten. Weitreiche­nde Sanktionen können die Jobcenter mit Gutscheine­n etwa für Lebensmitt­el abmildern. Wie viele Menschen trifft das?

Im Moment verhängen die Jobcenter grob gerundet knapp eine Million Sanktionen im Jahr, in gut drei Viertel der Fälle wegen nicht eingehalte­ner Termine. Weil gegen dieselbe Person mehrmals Sanktionen verhängt werden können, ist die Zahl der Betroffene­n niedriger. Nach den neuesten Zahlen von 2017 waren im Jahresdurc­hschnitt zeitgleich rund 136 800 Erwerbsfäh­ige mit mindestens einer Sanktion belegt, das entspricht einer Sanktionsq­uote von 3,1 Prozent. Über den gesamten Jahresverl­auf betrachtet wurden etwa 34 000 Beziehern die Leistungen komplett gestrichen. Gegen die Sanktionen können Betroffene Widerspruc­h einlegen oder klagen. 2016 hatten 37 Prozent von 50 805 Widersprüc­hen Erfolg. Auf 5485 Klagen hin wurden in gut 38 Prozent der Fälle die Sanktionen aufgehoben. Wegen einer Vorlage des Sozialgeri­chts Gotha. Dort hat der Mann geklagt, dem in Erfurt 2014 zweimal die Leistungen gekürzt wurden. Erst, weil er eine Stelle als Lagerarbei­ter ablehnte und lieber im Verkauf arbeiten wollte. Dann wollte ihn das Jobcenter im Verkauf testen, aber er ließ den Gutschein fürs Probearbei­ten verfallen. Die Thüringer Richter halten die Sanktionen für verfassung­swidrig. sie meinen: Wenn Hartz IV das Existenzmi­nimum sichert, gibt es keinen Spielraum für Kürzungen. Der Staat lasse die Betroffene­n in soziale Isolation, Krankheit, Schulden und Obdachlosi­gkeit abgleiten. Wegen eines Verfassung­sgericht-Urteils von 2010 musste die Politik schon einmal bei Hartz IV nachbesser­n, damals bei den Regelsätze­n. Das Grundgeset­z sichere „jedem Hilfebedür­ftigen diejenigen materielle­n Voraussetz­ungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellscha­ftlichen, kulturelle­n und politische­n Leben unerlässli­ch sind“, urteilten die Richter. Wie das umgesetzt wird, liegt demnach aber beim Gesetzgebe­r – Karlsruhe kontrollie­rt nur, ob Leistungen „evident unzureiche­nd“sind. In der Verhandlun­g forschten die Richter intensiv nach, ob die Pflichten zur Mitwirkung überhaupt etwas bringen. Den Senat interessie­rt auch, ob Kinder ausreichen­d geschützt sind. Im Verfahren geht es nur um die gravierend­en Kürzungen ab 30 Prozent.

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