Saarbruecker Zeitung

Das kleine Weltwunder von Nebra

Die in Sachsen-Anhalt gefundene Himmelssch­eibe gibt Zeugnis von einer 4000 Jahre alten Hochkultur in der Mitte Europas.

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der Suche nach Überresten aus dem Zweiten Weltkrieg, für die Militaria-Sammler gutes Geld zu zahlen bereit sind, machten zwei Schatzsuch­er im Juli 1999 auf dem Mittelberg bei Nebra in Sachsen-Anhalt einen sensatione­llen Fund. Doch darüber waren sie sich keineswegs im Klaren. Als ihre Metallsond­e anschlug, fingen die 28 und 35 Jahre alten Männer zu graben an und förderten, das glaubten sie jedenfalls, einen alten Eimerdecke­l zutage. Dann entdeckten sie in dem Loch noch zwei Beile, einen Meißel, zwei Schwerter und zwei Armspirale­n, alles aus Bronze, teilweise verziert mit Kupfer und Gold.

Der Deckel entpuppte sich als Sensations­fund. Die Himmelssch­eibe von Nebra, 3600 Jahre alt, zeugt von einer bislang verscholle­nen Kultur mitten in Deutschlan­d, die Forscher inzwischen auf die gleiche Stufe stellen wie die bedeutende­n Zivilisati­onen des Altertums. Die Himmelssch­eibe ist inzwischen eines der am besten erforschte­n Fundstücke der Archäologi­e. Ein internatio­nales Team von Archäologe­n, Metallurge­n, Astronomen, Geologen, Anthropolo­gen, Physikern, Genetikern und Chemikern hat der Scheibe und ihrem Fundort schier unglaublic­he Geheimniss­e entlockt. Und das sind einige. Die rund 2050 Gramm schwere Scheibe aus Bronze mit einem Durchmesse­r von 32 Zentimeter­n gilt als älteste bisher entdeckte konkrete Darstellun­g des Himmels. Die Sterne sind naturalist­isch dargestell­t, nicht als Götter oder Geister, wie es sonst in frühen Kulturen der Fall war.

Die Forscher sind der Meinung, dass die Himmelssch­eibe einen über viele Jahre hinweg zuverlässi­gen Kalender darstellte, weil er den Nutzern ermöglicht­e, das Sonnenjahr mit dem elf Tage kürzeren Mondjahr zu synchronis­ieren. Die dafür erforderli­che Schaltrege­l ergibt sich aus den Konstellat­ion des Mondes zum Siebengest­irn der Plejaden, die auf der Scheibe dargestell­t sind. Die Forscher vermuten zudem, dass ein heimgekehr­ter Reisender dieses astronomis­che Wissen aus Babylon mitgebrach­t hat.

Die Technik, Gold auf Bronze zu fixieren, stammt aus der Ägäis. Erst damit war es möglich, die kunstvolle Scheibe zu schmieden. Die später aufgebrach­te Sonnenbark­e geht vermutlich auf ägyptische Einflüsse zurück. Materialan­alysen haben gezeigt, dass das für die Scheibe verwendete Gold und Zinn aus dem über 1000 Kilometer entfernten England stammten, das Kupfer aus den Alpen in Österreich.

Dass die bisher älteste Himmelsdar­stellung der Weltgeschi­chte aus Mitteldeut­schland stammt, aus der Region zwischen Harz, Elbe und Saale, gilt schon als archäologi­sche Sensation. Doch die Forscher entdeckten weit mehr: eine bislang unbekannte Kultur, die gut 400 Jahre währte. Davon ahnte bislang niemand etwas, da diese Zivilisati­on noch keine Schrift verwendete und somit keine schriftlic­hen Überliefer­ungen vorhanden sind. Daher ist unter Wissenscha­ftlern umstritten, ob man von einer Hochkultur sprechen kann.

Überreste gewaltiger Grabhügel mit aufwendig angelegten Grabkammer­n, in denen trotz früher Grabräuber­ei noch Goldschmuc­k entdeckt wurde, lieferten erste Hinweise auf eine streng hierarchis­ch organisier­te Gesellscha­ft, der eine lange Zeit des Wohlstands und des Friedens beschert war.

Die Forscher gehen davon aus, dass es sich um ein Reich handelte, „das von den ersten Königen in Mitteleuro­pa regiert wurde“. Sie ordnen es der „Kultur von Aunjetitz“zu, benannt nach einem Dorf bei Prag. Die Funde lassen darauf schließen, dass die Herrscher ihre Macht auf Armeen, weitreiche­nde Kontakte zu Eliten anderer Kulturen und Handelsbez­iehungen, aber auch Heiligtüme­r und anfangs auf Menschenop­fer stützten. Die Himmelssch­eibe blieb als Symbol des Wissens und der Macht über Generation­en hinweg im Besitz der Herrscherd­ynastie, ehe sie im Niedergang des Reiches bei Nebra vergraben wurde.

Der Archäologe Harald Meller, Direktor des Landesmuse­ums für Frühgeschi­chte in Halle (Sachsen-Anhalt) und der Historiker und Wissenscha­ftsautor Kai Michel beschreibe­n im Buch „Die Himmelssch­eibe von Nebra“die Entschlüss­elung des Fundes. Das Buch ist ein Genuss, brillant geschriebe­n, spannender als viele Romane, voller atemberaub­ender Erkenntnis­se, aber auch fasziniere­nder Deutungen und durchaus gewagter Spekulatio­nen. Harald Meller, Kai Michel: Die Himmelssch­eibe von Nebra. Der Schlüssel zu einer untergegan­genen Kultur im Herzen Europas, Propyläen, 25 Euro, ISBN 978-3-549-07646-0.

 ?? FOTO: POLLMANN/DPA ?? Die Himmelssch­eibe von Nebra gilt als archäologi­sche Sensation. Sie ist die älteste heute bekannte Darstellun­g des Nachthimme­ls und wurde vermutlich von Menschen einer Hochkultur angefertig­t, die vor mehr als 3600 Jahren in Mitteleuro­pa lebten.
FOTO: POLLMANN/DPA Die Himmelssch­eibe von Nebra gilt als archäologi­sche Sensation. Sie ist die älteste heute bekannte Darstellun­g des Nachthimme­ls und wurde vermutlich von Menschen einer Hochkultur angefertig­t, die vor mehr als 3600 Jahren in Mitteleuro­pa lebten.

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