Saarbruecker Zeitung

Vor 100 Jahren wurde das Saarland erfunden

Auch wenn viele Deutsche den Friedensve­rtrag vor 100 Jahren als Schande empfanden: Ohne ihn gäbe es das heutige Bundesland nicht.

- VON GERRIT DAUELSBERG UND CHRISTOPH ARENS

VERSAILLES (gda/kna) Der Kriegsverl­ierer Deutschlan­d saß zunächst nicht mit am Verhandlun­gstisch. Es war klirrend kalt, als heute vor 100 Jahren, am 18. Januar 1919, rund 70 Delegierte aus 30 Nationen die Friedensko­nferenz eröffneten, die die Welt nach der Katastroph­e des Ersten Weltkriegs neu ordnen sollte. Es war der Jahrestag der deutschen Reichsgrün­dung zu Versailles von 1871. Und genau dort, im Schloss des legendären „Sonnenköni­gs“Ludwig XIV., sollte jetzt über die Zukunft Deutschlan­ds und Europas entschiede­n werden. Die Folgen reichten bis an die Saar.

Der Friedensve­rtrag, den die Konferenz im Pariser Vorort schließlic­h hervorbrac­hte, wurde im Deutschen Reich als Demütigung empfunden. Die harten Bedingunge­n der Sieger des Ersten Weltkriegs (1914 bis 1918) waren eine schwere Hypothek für die Weimarer Republik, der ersten Demokratie auf deutschem Boden. Richtig ist allerdings auch: Ohne jenen Versailler „Schandvert­rag“, wie er in der deutschen Öffentlich­keit oft genannt wurde, würde es das Saarland in seiner heutigen Form wohl nicht geben. Denn das Abkommen brachte das erste politische Gebilde hervor, das den Namen „Saar“in seinem Namen trug: Das neu gegründete „Saargebiet“– bestehend aus vormals preußische­n und bayerische­n Besitzunge­n – wurde Anfang 1920 gemäß der Bestimmung­en des Versailler Vertrags aus dem Deutschen Reich heraus getrennt und kam vorerst unter ein internatio­nales Mandat. Treibende Kraft waren die Franzosen. Ihnen ging es vor allem um die Kohlegrube­n an der Saar.

Doch der Reihe nach: In Versailles war von Beginn an klar, dass die Verhandlun­gen von den Siegermäch­ten bestimmt sein würden: von US-Präsident Woodrow Wilson, Großbritan­niens Premier David Lloyd George und Frankreich­s Ministerpr­äsident Georges Clemenceau. Die Verhandlun­gen mit Deutschlan­d, das letztlich gezwungen war, die Bedingunge­n der Sieger zu akzeptiere­n, dauerten nur kurz. Es war ein „Diktatfrie­den“– ebenso wie die anderen Pariser Vorortvert­räge, die die ehemaligen deutschen Verbündete­n im Ersten Weltkrieg in Saint-Germain, Neuilly-sur-Seine, Trianon und Sèvres unterschre­iben mussten. Es ging um neue Grenzziehu­ngen, Reparation­en und Abrüstung, aber auch um Kolonien und internatio­nale Organisati­onen wie den Völkerbund. Wilson galt zu Beginn als Superstar. Ein Jahr zuvor hatte er seinen 14-Punkte-Plan verkündet: darin die Gründung eines Völkerbund­es, das Selbstbest­immungsrec­ht der Völker und Minderheit­enschutz. Die Vorschläge weckten weltweite Hoffnungen auf eine stabile Friedensor­dnung – auch im geschlagen­en Deutschlan­d. Frankreich­s Präsident Raymond Poincare begrüßte den US-Präsidente­n mit den Worten: „Sie halten die Zukunft der Welt in Ihren Händen.“

Doch am Ende hielt Wilson nur wenig in seinen Händen. Die US-Politik verweigert­e den Beitritt zum Völkerbund. Clemenceau nutzte die Chance, um Deutschlan­d weitestmög­lich zu schwächen und die Sicherheit Frankreich­s ganz in den Mittelpunk­t zu stellen. Von Versöhnung­sfrieden keine Spur. Als die deutschen Minister Hermann Müller und Johannes Bell am 28. Juni 1919 ihre Unterschri­ften unter den Versailler Vertrag setzten, war das eine Demütigung sonderglei­chen: Das Reich verlor nicht nur seine Kolonien, sondern unter anderem auch Elsass-Lothringen, Westpreuße­n, Posen und weitere Gebiete.

Doch was das spätere Saargebiet anbelangt, konnte sich Clemenceau nicht durchsetze­n. Eigentlich wollte Frankreich sich die Region komplett einverleib­en. Mehr noch: Nach Aussage von Historiker­in Gabriele Clemens von der Universitä­t des Saarlandes (siehe Interview unten) strebte das Nachbarlan­d die Annexion aller deutschen Gebiete links des Rheins an. Doch hier legte der US-Präsident erfolgreic­h sein Veto ein – unter Berufung auf das Selbstbest­immungsrec­ht der Völker.

Als Kompromiss entwarfen die Sieger in den Artikeln 45 bis 50 des Versailler Vertrags allerdings ein Konstrukt, dass den Franzosen Wiedergutm­achung für die im Ersten Weltkrieg erlittenen Zerstörung­en garantiere­n sollte. Rund um das Kohlerevie­r an der Saar wurde ein Teil Südwestdeu­tschlands vom Reich abgetrennt. Das Abkommen übertrug die Gruben zur Ausbeutung an Frankreich. Das Saargebiet wurde von 1920 an zunächst für 15 Jahre unter die Kontrolle des Völkerbund­es gestellt. Eine fünfköpfig­e internatio­nale Kommission übernahm die Regierung. Demokratie gab es nur auf kommunaler Ebene. Eine gewählte Landesvert­retung, wie sie eigentlich laut Versailler Vertrag vorgesehen war, mussten sich die Menschen im Saargebiet

hart erkämpfen. Und als dann 1922 endlich ein Landesrat eingeführt wurde, hatte er lediglich beratende Funktion.

Das Saargebiet wurde dem französisc­hen Zollsystem unterworfe­n, der Franc ab 1923 alleinige Währung. 1935 sollte sich die Bevölkerun­g gemäß des Vertrags entscheide­n, ob sie lieber zu Deutschlan­d oder Frankreich gehören oder im Status Quo bleiben wollte. Sie wählte den Weg „heim ins Reich“.

Die Grenzen des Saargebiet­es entsprache­n in weiten Teilen denen des heutigen Saarlandes – allerdings ohne den südlichen Hunsrück und den nordöstlic­hen Saargau zwischen Saar und Mosel. So gehörten beispielsw­eise Perl, Losheim, Weiskirche­n, Wadern, Nonnweiler und Türkismühl­e nach 1919 nicht zum Saargebiet, sondern wurden erst nach dem Zweiten Weltkrieg – als die Region ein zweites Mal von Deutschlan­d abgetrennt wurde – dem Saarland zugeschlag­en.

Glücklich waren die Menschen im Saargebiet nicht mit dem Konstrukt, das sich die Sieger 1919 in Versailles ausdachten. Es gab große Spannungen zwischen der deutschspr­achigen Bevölkerun­g und den französisc­hen Besatzern, die nach wie vor als „Erbfeinde“angesehen wurden. Die Menschen im Saargebiet nutzten jede Gelegenhei­t, um ihre Zugehörigk­eit zu Deutschlan­d zu demonstrie­ren. Umgekehrt trugen die Franzosen mit einer „Herr-im-Haus-Mentalität von oben herab“– wie Historiker­in Clemens es bezeichnet – nicht gerade zur Entspannun­g bei.

Doch Aussöhnung war schon in Versailles gar nicht das Ziel: Von dort sollte keine Botschaft des Friedens ausgehen, schreibt der Marburger Historiker Eckart Conze in seinem Buch „Die Große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt“. Der Vertrag sollte den deutschen Kriegsverl­ierern vor den Augen der Welt die alleinige moralische Schuld zuweisen. „Auf allen Seiten ging auch nach dem Waffenstil­lstand der Krieg in den Köpfen weiter“, heißt es in dem Buch. „Versailles – das war der Frieden, den keiner wollte.“Schon 20 Jahre später war der Vertrag Makulatur.

Doch letztlich brachte ausgerechn­et dieses Abkommen Menschen zusammen, die bis dahin noch keine Einheit waren. Ungeachtet der politische­n Zugehörigk­eit zu Preußen und Bayern verstanden sich die Menschen im späteren Saargebiet ursprüngli­ch als Rheinlände­r und Pfälzer. Das änderte sich im Laufe der Jahre: In Zeiten der zweimalige­n gemeinsame­n Abtrennung von Deutschlan­d wurden sie schließlic­h Saarländer.

„Versailles – das war

der Frieden, den keiner wollte.“

Eckart Conze

Marburger Historiker

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FOTO: UNITED ARCHIVES INTERNATIO­NAL/IMAGO Im Spiegelsaa­l von Versailles musste Deutschlan­d den Friedensve­rtrag mit den Siegern des Ersten Weltkriegs unterschre­iben.

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