Saarbruecker Zeitung

Erneute Krawalle in Frankreich

Die Proteste der „Gelbwesten“haben Frankreich schwer erschütter­t. Sie stellen die Grundwerte von Gleichheit und Brüderlich­keit in Frage.

- FOTO: ABDELKAFI/AFP

haben am 13. Protest-Wochenende der „Gelbwesten“-Bewegung in Frankreich gegen die Politik der Regierung demonstrie­rt. Dabei kam es erneut zu Gewaltausb­rüchen. Hier steht ein Auto französisc­her Sicherheit­skräfte vor dem Pariser Eiffelturm in Flammen. In der Hauptstadt beteiligte­n sich laut Innenminis­terium 4000 Menschen an den Protesten, landesweit waren es mehr als 51 000.

Die Franzosen sind stolz auf ihre Grande Nation. Liberté, égalité, fraternité – Freiheit, Gleichheit, Brüderlich­keit – heißen die Säulen, auf denen die Republik ruht. Doch das Fundament zeigt Risse. Wie steht es tatsächlic­h um Gleichheit und Brüderlich­keit in einem Land, in dem die sozialen Unterschie­de seit Jahrzehnte­n immer größer werden? In dem sich weite Teile der Bevölkerun­g ignoriert fühlen von der fernen Machtzentr­ale in Paris?

Die „Gilets Jaunes“sehen sich als Vertreter dieser abgehängte­n Klasse und sie schreien ihre Wut den Mächtigen ins Gesicht. Ging es anfangs lediglich um Proteste gegen eine Preiserhöh­ung für Diesel, stellen die „Gelbwesten“inzwischen die Grundfeste­n der französisc­hen Republik in Frage. Und es ist ihr Verdienst, dass sie die französisc­he Gesellscha­ft in Bewegung gesetzt haben. Allerdings ist es nicht jene Bewegung im Sinne von Emmanuel Macrons politische­m Zusammensc­hluss „La République en Marche“. Eines Landes also, das sich hoffnungsf­roh und strammen Schrittes auf dem Weg in die Zukunft macht. Es ist ein zweifelnde­s Frankreich, ein Land, das sich auf die Suche nach sich selbst gemacht hat.

An Erklärungs­versuchen der Lage mangelt es in diesen komplizier­ten Zeiten nicht. Es gibt inzwischen wohl keinen Schriftste­ller, Philosophe­n oder Soziologen im ganzen Land, der seit dem Beginn der Proteste am 17. November nicht seine Sicht auf die Dinge kundgetan hat.

Ein Name fällt in den Debatten immer wieder: Pierre Bourdieu. Der im Jahr 2002 verstorben­e Soziologe hat sich bereits Anfang der 1990er Jahre in die französisc­he Provinz begeben und den Menschen unermüdlic­h Fragen gestellt. Am Ende stand das Buch „Das Elend der Welt“, ein Wälzer von fast 1000 Seiten. In jenem Werk aus dem Jahr 1993 sind die Antworten auf die Frage zu finden, weshalb die Menschen in diesen Monaten zu Zehntausen­den auf die Straßen gehen. Es ist eine Studie über menschlich­e Ausgrenzun­g, sozialen Abstieg und fehlende Zukunftspe­rspektiven. In den Interviews mit Bourdieu reden frustriert­e Lehrer, erschöpfte Schichtarb­eiterinnen, überforder­te Beamte, verzweifel­te Kleinunter­nehmer und entnervte Bauern über ihre kleinen und großen Sorgen. Befragt wurden Menschen, die damals schon lebten wie heute Priscilla Ludosky, die junge Frau aus Savigny-le-Temple unweit von Paris. Sie hat mit einer Online-Petition gegen die Anhebung des Benzinprei­ses Anfang vergangene­n Jahres die Bewegung der „Gelbwesten“erst in Gang gebracht.

Verblüffen­d ist also, dass der Kern des Problems längst benannt ist und all die Jahre dennoch kaum etwas dagegen unternomme­n wurde. Dieses Erstaunen zieht sich durch fast alle Wortmeldun­gen. Immer wieder wird deutlich, dass Intellektu­elle und Politiker zwar gerne die nun aufbegehre­nde französisc­he Arbeiterkl­asse zitieren, sie aber allenfalls als Vehikel für ihre eigenen politische­n Forderunge­n ins Feld führen. Da werden die ärmeren Schichten – je nach Bedarf – zu ehrlichen Arbeitern oder faulen Lumpen, zu unschuldig­en Bürgern oder rassistisc­hen, schwulenfe­inlichen Schlägern.

Édouard Louis, 26 Jahre alt und ein Shootingst­ar der Literaturs­zene, beschreibt diesen Zustand in seinem Buch „Wer hat meinen Vater umgebracht“. In seinen Augen ist Politik für die Oberschich­t ein theoretisc­her Ort, ein Platz für Debatten und Diskurse. Für einen einfachen Arbeiter wie seinen Vater könne Politik aber etwas sehr Konkretes sein und bedeuten, dass er von einem Tag auf den anderen keine Arbeit mehr hat. Es ist diese Authentizi­tät der Aussagen des Proletarie­rsohnes, die Édouard Louis als Gesprächsp­artner gerade so begehrt machen.

Ähnliches berichtet auch Nicolas Mathieu in „Leurs enfants après eux“. Ein Roman aus dem Jahr 2018, in dem er das Leben der Jugend während der 90er Jahre in den kleinen und mittleren Städten der französisc­hen Peripherie beschreibt, dort wo in jenen Jahren die fundamenta­len Entscheidu­ngen der Wirtschaft­slenker aus dem fernen Paris in voller Härte spürbar wurden, wo die Hochöfen erloschen und die Fabriken ihre Tore dichtmacht­en. Das gesamte Leben jener Menschen habe sich damals nach dem Rhythmus der immer gleichen Schichten in den Fabriken gerichtet, sagt der Autor. Doch als die Wirtschaft liberalisi­ert und die Märkte geöffnet wurden, brach diese Sicherheit in sich zusammen. Und heute, erklärt Nicolas Mathieu, wundert sich die Elite des Landes, dass diese frustriert­en Arbeiter sich gelbe Westen überziehen, Straßen blockieren und die Globalisie­rung nicht als Chance, sondern als Gefahr betrachten.

Auch Christophe Guilluy, Geograph und Autor, sieht diesen tiefen Graben zwischen Stadt und Land. Er beschreibt die großen Metropolen als Trutzburge­n. Paris sei von seinem eigenen französisc­hen Hinterland weiter entfernt als von Amsterdam, London oder Barcelona. Es sei einfach, sagt Guilluy, in einem Straßencaf­é im Schatten des Louvre zu sitzen, über Umweltschu­tz zu diskutiere­n, dann in sein Elektroaut­o zu steigen und damit in den Bio-Markt einkaufen zu fahren. Er geht so weit zu behaupten, der Einsatz für den Schutz der Umwelt sei inzwischen zu einer Art gesellscha­ftlichem Unterschei­dungsmerkm­al geworden. Christophe Guilluy: Die Gilets Jaunes seien in den Augen der Stadtgesel­lschaft ungehobelt­e Klötze, die billige Zigaretten rauchten und alte Diesel führen.

In dieser Kakophonie der Experten meldete sich nun der Bürgermeis­ter von Toulouse zu Wort. Jean-Luc Moudenc, dem Mann aus der Praxis, geht die ständige Unterschei­dung in Stadt und Land gehörig auf die Nerven. Frankreich werde wie eine verzerrte Karikatur dargestell­t, das müsse ein Ende haben. Die aktuellen Probleme beträfen alle Franzosen, schreibt der Lokalpolit­iker in einem kurzen Text in der Tageszeitu­ng „Le Figaro“. Auch in den Städten herrsche ein Mangel an guten Ärzten, die Schulen seien schlecht ausgestatt­et, das Leben teuer und die Infrastruk­tur teilweise in einem miserablen Zustand.

Die aktuelle Debatte erscheint ihm offenbar wieder einmal wie eine bloße Selbstbesc­häftigung der Intellektu­ellen. Moudenc appelliert an die alten Tugenden der Republik: Einheit und Brüderlich­keit. Ganz Frankreich habe dieselben Probleme – nicht nur die Peripherie. Sein Appell: „Lasst uns endlich handeln – gemeinsam!“

„Lasst uns endlich handeln – gemeinsam!“Jean-Luc- Moudenc Ex-Bürgermeis­ter von Toulouse

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FOTO: IMAGO Bei einer Demonstrat­ion in Paris im Januar erinnerte einer der „Gelbwesten“an die Grundwerte Frankreich­s – Freiheit, Gleichheit und Bürderlich­keit. Wenig später schlug der Protest in Krawalle um.

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