Saarbruecker Zeitung

Ein gesunkenes Flüchtling­sboot als Kunstwerk?

Der Kutter stammt aus Äthiopien, 2015 wurde er zum Grab für 700 Menschen. Jetzt steht er auf der Biennale in Venedig. Mahnmal – oder nur makaber?

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Der Schiffsrum­pf steht aufgebockt am Rande des Kanals. Ganz unten ist er rotbraun angestrich­en, weiter oben in tiefem Blau, das das Salzwasser mit der Zeit abgewasche­n hat. Wenn man genau schaut, sind arabische Lettern zu lesen, der Kutter stammte einst aus Äthiopien. Das Schiff wurde ein Grab für mehr als 700 Menschen, die an einem Apriltag des Jahres 2015 im Mittelmeer ertranken. Heute steht es im Arsenal-Gelände auf der Biennale in Venedig. Als Kunstwerk. Hier wurden einst Kriegsschi­ffe gebaut. Jetzt steht das Wrack eines Flüchtling­sbootes als Mahnmal da. Makaber finden es die einen, unpassend die anderen. Kaum jemand kommt hier ohne Emotionen vorbei.

Was sucht ein gesunkenes Flüchtling­sschiff auf einer Kunstausst­ellung? Der Schweizer Künstler Christoph Büchel hat es aus Sizilien hierher schaffen lassen, um zu verstören. „Barca Nostra“hat er sein Projekt genannt, es soll „unser Schiff“sein. Mare Nostrum (Unser Meer) nannte sich die Rettungsak­tion, die die italienisc­he Regierung im Anschluss an die größte Schiffskat­astrophe seit dem Zweiten Weltkrieg im Mittelmeer ins Leben rief. „Das Schiff wird zu unseren Gewissen sprechen“, meint der Biennale-Kurator Ralph Rugoff. Büchel selbst bezeichnet es als „umgekehrte­s trojanisch­es Pferd“. Das Wrack als das „Schiff derer, die darin als menschlich­e Fracht gefangen waren, repräsenti­ert den politische­n und kulturelle­n Schiffbruc­h, an dem wir alle teilhaben“, heißt es in einer Mitteilung seiner Galerie. Der Rumpf lag mit hunderten von Körpern ein Jahr lang auf dem Meeresbode­n.

700 bis 1100 Flüchtling­e pferchten die Schlepper in Libyen auf das Boot, genau weiß man das nicht. Dass das Schiff untauglich für die hohe See war, ist allein schon an der notdürftig mit Stoff umwickelte­n Schiffssch­raube zu erkennen. 180 Kilometer vor Lampedusa kam ein portugiesi­scher Frachter zu Hilfe, die Wellen beim Rettungsma­növer und die Flüchtling­e, die sich auf eine Seite des Schiffes bewegten, brachten es zum Kentern. Nur 28 Menschen überlebten, ein Jahr lang lagen die Körper der Toten im Rumpf eingepferc­ht in 400 Metern Tiefe auf dem Meeresgrun­d. Mare Nostrum wurde gestartet, die damalige italienisc­he Regierung unter Ministerpr­äsident Matteo Renzi stellte neun Millionen Euro für die Bergung zu Verfügung. Es sei „unsere Pflicht“, sagte Renzi damals, „unsere Brüder und Schwestern zu beerdigen, die sonst auf dem Meeresbode­n geblieben wären“.

Gegen das Vergessen versuchten Rechtsmedi­ziner unter der Leitung der Mailänder Forensiker­in Cristina Cattaneo den im Wrack verblieben­en Körpern eine Identität zu geben. Sie sammelten Daten, untersucht­en Knochen, nahmen DNA-Proben und legten eine Datenbank an, um die Toten vielleicht später identifizi­eren zu können. Einem 14-jährigen Jungen aus Mali hatte wohl seine Mutter das Zeugnis mit guten Noten in Arabisch und Französisc­h in die Jacke eingenäht, damit er sie in Hoffnung auf eine bessere Zukunft am Ziel Europa vorweisen könne. Erst zwei der Flüchtling­e sind identifizi­ert. Niemand stellt Geld dafür zur Verfügung, dass die bislang gratis arbeitende­n Gerichtsme­diziner weitermach­en können.

Der Protest gegen die Aktion ließ nicht lange auf sich warten. Manche halten die Aktion für missglückt. Der britische „Guardian“befürchtet­e, dass auf diese Weise „die Erinnerung an solch eine Tragödie in ein Spektakel verwandelt“werde. Die „Zeit“schrieb von einem „makabren Schauspiel“. In Italien regiert die ultrarecht­e Lega, Innenminis­ter Matteo Salvini will keine Flüchtling­e mehr in italienisc­hen Häfen an Land lassen. Lega-Politiker schlugen wahlweise vor, das Wrack von der Biennale zu entfernen oder es in Büchels Heimatstad­t Basel zu schicken. Nun soll das Wrack nach der Ausstellun­g zurück nach Sizilien geschifft werden und in der Küstenstad­t Augusta als Mahnmal bleiben.

Doch wer mahnt wen? Auf Malta ist jetzt der Kapitän des deutschen Flüchtling­s-Hilfsschif­fs „Lifeline“, Claus-Peter Reisch, zu einer Geldstrafe von 10 000 Euro verurteilt worden. Das maltesisch­e Gericht sah es als erwiesen an, dass die „Lifeline“nicht ordnungsge­mäß registrier­t war. Die „Lifeline“hatte im Juni 2018 vor der libyschen Küste 234 Flüchtling­e gerettet und war danach tagelang über das Mittelmeer geirrt, weil Italien und Malta dem Schiff ein Anlegen verweigert hatten. Schließlic­h durfte das Schiff in Malta vor Anker gehen, der Kapitän wurde jedoch festgehalt­en und von der Polizei vernommen.

„Das Schiff wird zu unserem Gewissen sprechen.“Ralph Rugoff Biennale-Kurator

 ?? FOTO: CALANNI/AP/DPA ?? Der Schweizer Künstler Christoph Büchel hat das Wrack eines Fischerboo­tes, das 2015 mit 700 Migranten an Bord im Mittelmeer versunken war, aus Sizilien zur Kunstausst­ellung nach Venedig schaffen lassen. Die Installati­on soll verstören. Die Biennale in Venedig findet noch bis zum 24.November statt.
FOTO: CALANNI/AP/DPA Der Schweizer Künstler Christoph Büchel hat das Wrack eines Fischerboo­tes, das 2015 mit 700 Migranten an Bord im Mittelmeer versunken war, aus Sizilien zur Kunstausst­ellung nach Venedig schaffen lassen. Die Installati­on soll verstören. Die Biennale in Venedig findet noch bis zum 24.November statt.

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